Foto: ©Kerting Fehring / Fotoloft Wees
Heimatlos
Vera Ukuwrere wusste die ersten acht Jahre ihre Leben lang nicht, wer ihre leibliche Mutter sein könnte. Im Alter von 13 Jahren wurde sie aus Nigeria nach Nordfriesland geholt. Sie lernte drei verschiedene Sprachen, erlebte einige Neuanfänge, verlor ihre Wurzeln. Dennoch fand sie ihren eigenen Weg und ihre Berufung. Ganz allein. Hier erzählt sie in eigenen Worten ihren Werdegang. Ein Protokoll
"Acht Jahre lang glaubte ich, dass meine Oma meine Mutter sei. Ich bin im Busch aufgewachsen, in Nigeria. Wir nennen es wirklich Busch. In einem Village, das ich heute nicht mehr verorten kann. Es gab keinen Strom, die Toiletten waren hinter dem Haus. Eine Art Plumpsklo, ein riesiges Loch, abgedeckt mit Brettern, da saß man drauf. Meine Oma war schlank, trug traditionelle afrikanische Kleider in bunten Farben. Sie hielt mich an der Hand und ich habe zu ihr hochgeschaut. So das Bild in meiner Erinnerung, Ich denke, damals ging es mir gut. Dann tauchte auf einmal eine Frau im Village auf. Meine Großmutter mütterlicherseits. Ich wurde von ihr abgeholt und vom Busch in die Zivilisation gebracht, in die Stadt Kaduna. Dort lebte meine Mutter mit meinem deutschen Stiefvater Wolfgang in einem schönen Haus. Er hatte für die AirForce als Ingenieur gearbeitet und war in Nigeria stationiert. Im Busch war es schön, sehr naturverbunden. Wir holten das Essen frisch aus dem Wald. Dieses Erbe hat mir meine Mutter einfach abgeschnitten.
Dieses schöne Haus in Kaduna durfte ich nur zum Duschen betreten. Ich lebte in einem Nebengebäude, das war weniger schön, fast so simpel wie im Busch. Gemeinsam mit der Familie des House-Sitters Sakari. Sie waren nett zu mir, seinen Namen werde ich nie vergessen. Meine Mutter kochte zwar für mich, doch sie brachte mir das Essen nach draußen, damit wir bloß nicht zusammen sitzen und essen. Mein Stiefvater hat mich nicht liebevoll betrachtet oder behandelt. Dafür hatte er einen Deutschen Schäferhund. Der hieß Rex und biss mich in die Wade. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Ich kannte keine Hunde, nur wilde Tiere. Instinktiv bin ich vor ihm weggerannt, er verfolgte mich und biss zu. Meine Gefühle waren heftig: 'Du bist Deiner Oma weggenommen worden, Deine Mutter will Dich nicht in ihrem Haus und dann wirst Du noch von einem Ungeheuer gebissen'. Meine Mutter schickte mich auf ein Internat, dort sollte ich Englisch lernen. Vorher war ich mit einer Sprache im Busch groß geworden, deren Name mir unbekannt ist und die ich nicht mehr beherrsche. „Niemand versteht Dich“, schimpfte meine Mutter. Sie zog mit meinem Stiefvater nach Deutschland. Drei Jahre später, mit 13 Jahren, wurde ich geholt. Nach Ockholm in Nordfriesland. Wieder ein Neuanfang.
Kein Kind kann etwas dafür, dass es geboren wurde
Als Teenager wollte ich immer ausreißen. Einfach loslaufen, mich in einen Graben legen und einschlafen, das war meine ziemlich konkrete Selbstmordfantasie. Wer mir in diesen dunklen Momenten geholfen hatte, war eine ältere Nachbarin, die im gleichen Haus lebte. Sie bekam die Situation mit meiner Mutter mit: das Schreien, die Schläge, die Kämpfe. Sie sagte immer, dass ich nicht aufgeben darf. 'Kind, die Welt wurde Dir nicht gegeben, damit Du leidest, sondern Freude erlebst', so sagte Anna-Elisabeth und hat mich damit unendlich gestärkt.
An dem Tag, als ich Mutter wurde, habe ich verstanden, dass kein Kind etwas dafür kann, dass es geboren wird. Kinder kommen unschuldig auf die Welt, also war auch ich unschuldig gewesen. Vorher hatte ich nur Schuld gespürt. Dafür, dass ich überhaupt existierte. Dank meiner Mutter, die mir vorgeworfen hatte, dass ich ihre sportliche Karriere zerstört hätte. Sie wollte als Leichtathletin für Olympia trainieren, dieser Traum war mit ihrer Schwangerschaft geplatzt. Sie behauptete auch, dass ich gar nicht ihr Kind sei, sondern vertauscht worden sei. Sie bestritt ihre Mutterschaft. Obendrein läge ein Fluch auf mir. Es klingt komisch, aber der Glaube an einen Fluch half mir. Dafür konnte ich wenigstens nichts. Als ich schwanger wurde, meldete sich ein starker Impuls: ich muss meine Tochter vor meiner Mutter schützen. Hat auch geklappt. Sie lebt inzwischen in London und hat ihre Enkelin kein einziges Mal gesehen. Ich habe ihr verziehen, doch eine Versöhnung wird es nicht geben.
Mit meiner Tochter wollte ich alles besser machen. Dazu gehörte, dass ich mich von ihrem deutschen Vater kurz nach der Geburt getrennt hatte. Inzwischen war ich so weit gereift, dass ich mir nichts mehr gefallen ließ. „Eine Weiße wäre mir lieber für Dich“, hatte seine Großmutter gesagt. Ein Satz wie ein Hieb. Auch von dieser Familie wurde ich also ausgegrenzt. Auch dem Kindesvater passierten mir gegenüber immer wieder rassistische Aussetzer, die ich nicht aushalten konnte.
Ich überlebe, auch ohne Wurzeln
Als Kind spürte ich ein Gefühl der Schande, nach dem Motto: 'Du hast es verdient zu leiden'. Heute spreche ich aus, wenn ich mich ausgegrenzt und verletzt fühle. Ich habe gelernt, mutig zu sein. Präsent und laut. Aus mir ist eine Kämpfernatur geworden, denn ich weiß, dass ich überlebe. Auch ohne Wurzeln. Trotz Ausgrenzung. Die habe ich immer erlebt, ob von meiner Mutter, in der Schule oder später im Job. Eigentlich wollte ich immer zu einer Gruppe dazu gehören, doch ich eckte ständig an. Dieser Umstand hat mich letztlich in die berufliche Selbständigkeit geführt. Ich bin sehr glücklich damit, als Tagesmutter in Glücksburg kleinen Kinder das Laufen beizubringen. Ich habe eine Ahnung davon, wie wichtig eine sichere Bezugsperson, beim Wachsen und Gedeihen sein kann.
Es sind nie materielle Dinge, an denen ich wachse, sondern es sind Menschen und Erlebnisse. An ihnen reift man und ich reife immer noch. Außerdem habe ich den unerschütterlichen Glauben an das Gute. Immer gab es Menschen im Umfeld, sowohl in Nordfriesland wie in Glücksburg, die mich gestärkt haben. Um mich reich zu fühlen, muss ich nicht in den Süden fliegen. Viel wichtiger: ich achte auf Geist und Seele. Ich rühre keinen Alkohol an, denn Gefühle will ich nicht wegdrücken, sondern spüren. Meinem Körper gönne ich jeden Tag bestes und leckerstes Essen aus dem Bioladen. Das war mal anders. Bis zu meiner Schwangerschaft kämpfte ich sieben Jahre lang mit Bulimie. Eine Form der Selbstzerstörung, ich wog damals 45 Kilo. Mit Baby im Bauch änderte sich alles. Denn das, was ich mir selbst antue, würde ich fortan gleichzeitig meinem Kind zufügen. Doch für sie will ich stark sein. Mehr als an alles andere denke ich an meine Tochter. Inzwischen ist sie 19 Jahre alt, hat ein 1,0-Abitur abgelegt, wurde Landesmeisterin im Siebenkampf und in den Bundeskader des Deutschen Leichtathletik-Verbandes aufgenommen. Nun studiert sie Jura. Ich bin wahnsinnig stolz auf sie, auf mich, auf unsere innige Bindung. Wenn ich heute noch manchmal inneren Schmerz spüre, sage ich mir immer: `Leid ist nicht gewollt. Es wird vorübergehen`, das war die Wahrheit meiner Nachbarin in Ockholm in Nordfriesland, die ich verinnerlicht habe."
Persönliche Anmerkung: ich hatte da Glück, Vera privat zufällig kennenlernen zu können. Ich hörte ihre Geschichte, war erschlagen – obwohl mich nichts so schnell erschüttert – aber dieses Mal hatte ich das Bedürfnis, diesen Lebensweg weiter zu tragen. In diesem Fall an die wahnsinnig tolle Redaktion der “Brigitte”.Nach Erscheinen dieser Geschichte, erhielt Vera nicht nur uglaublich viele Briefe, sondern auch eie Einladung in das wunderbare SWR-Nachctcafe. Daraufhin erhielt sie noch viel mehr Breife und Mails, dazu die Anfrage eines Literaturagenten, ob sie nicht ein Buch über ihre Lebensgeschichte schreiben möchte. Ja genau! Wie schön. Ich freu mich ganz stark über ihre Biographie