Wie Eltern lernen, loszulassen – damit Kinder Stärke entwickeln und ihr Gleichgewicht finden, im Leben wie auf der Schaukel
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WENIGER IST MEHR
“Zuviel Kümmern bremst das Kinderwohl”, sagt der Soziologe Prof. Dr. Norbert F. Schneider. Eltern wollen nur das Beste – und erreichen manchmal das Gegenteil. Wer Kindern zu viel abnimmt, macht nicht nur ihnen, sondern auch sich selbst das Leben schwer. Ein Interview.
Norbert F. Schneider, Experte für Familiensoziologie und ehemaliger Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB), beobachtet zunehmende Tendenzen der Überbehütung durch Eltern. Gemeinsam mit der Neurologin und Psychiaterin Maria M. Bellinger hat er das Buch „Mut tut gut. Warum wir unseren Kindern mehr zutrauen können“ (HarperCollins) veröffentlicht – ein Plädoyer für mehr Vertrauen in die Selbstständigkeit der Kinder und weniger elterliche Überfürsorge in einer von globalen Unsicherheiten geprägten Welt. Hier erklärt der Professor für Soziologie, warum übermäßiges Kümmern das Kindeswohl bremsen kann – und wie Eltern die gesunde Balance zwischen Fürsorge und Freiheit finden.
“Mut tut gut“ so der Titel Ihres Buches – richtet sich dieses Motto eher an die Eltern oder an deren Kinder?
Norbert F. Schneider: Dies ist als Mutmacher-Botschaft an die Eltern gedacht. Aus soziologischer Perspektive nehme ich wahr, dass der Erwartungsdruck, der von der Gesellschaft auf Eltern ausgeht, immer weiter steigt. Gleichzeitig wird dieser von den Eltern verinnerlicht, die sich zusätzlich selbst unter Druck setzen. Auch aus psychotherapeutischer Perspektive, die meine Co-Autorin einbringt, steigen das Stresserleben und die Anspannung in Familien. Wir sehen zunehmend überlastete und verunsicherte Eltern, die zur Überbehütung neigen. Das schadet nicht nur den Kindern, sondern auch der Gesellschaft, da die nachwachsende Generation nur schwer Resilienz entwickeln kann. Unser Anliegen ist es, Druck von den Eltern zu nehmen.
In 55 Interviews sprachen Sie mit Kindern, Eltern, Hebammen, Lehrern, Erziehern bis hin zu Psychotherapeuten. Was hat Sie an diesen Gesprächen besonders überrascht?
Zwei gegensätzliche Phänomene. Einmal waren das Gespräche mit einer Lehrerin und einem Lehrer in sozialen Brennpunktschulen in Hamburg und in einer rheinland-pfälzischen Kleinstadt. Beide schilderten, wie wenig sich die Eltern für die schulischen Belange ihrer Kinder interessieren. Diese Eltern seien so stark mit sich selbst beschäftigt, dass sie keine Zeit, keine Energie oder keine Motivation aufbringen, sich um ihre Kinder zu kümmern, die nicht mal eine Frühstücksbox in die Schule mitbekommen. Selbst als die Lehrer sie darauf aufmerksam machten, dass das Kind seit Tagen nicht in der Schule war, ernteten sie als Reaktion oft Gleichgültigkeit. Dieses Gegenteil von Überbehütung in diesem Ausmaß hat uns frappiert.
Und was war das zweite Phänomen?
Das waren Interviews mit Hebammen, die sehr emotional schilderten, wie kleinteilig werdende Eltern die Geburt planen, inszenieren und in ein Event verwandeln – und dies unmittelbar über Social Media kommunizieren. Spätestens mit den Geburtsvorbereitungskursen beginnt diese Inszenierung. Die werdenden Eltern planen genau, wo und wie das Kind geboren wird, am besten noch, wann es geboren werden soll. Bei der Geburt ist der Vater dabei und filmt. Die Hebammen sagten, das Schlimmste im Kreißsaal seien die beteiligten Väter. Aber: In aller Regel verläuft das Geburtsgeschehen komplett anders als geplant. Hier erleben viele Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben Kontrollverlust – und zwar vollständig. Dazu kommen existenzbedrohende Schmerzen und eine Art von Körperlichkeit, die sie bislang nicht kannten. Kommt noch eine Wochenbettdepression dazu, erleben die Paare Ernüchterung statt Honeymoon. Diese Beispiele zeigen die Rationalisierung und Erwartungsüberfrachtung an sich selbst und an Dritte – an die Institution, an das Krankenhaus. Die Geburt wird vom natürlichen Ereignis zum Event. Unter dieser Durchrationalisierung leidet der intuitive Umgang mit Kindern. Da will ich den Eltern zurufen: Weniger ist mehr! Weniger Planung, mehr Gelassenheit bringen größere Freude und weniger Stress.
Das klingt weniger nach Wunschkind, eher nach einem Projekt.
Elternschaft als Projekt kann dazu führen, dass das Kind einen Konsumcharakter erhält – das ist ein hartes Wort. Doch es gibt vermehrt Familien, in denen Kinder zum Konsumgut werden: „Ich genieße es, mein Kind im schicken Kinderwagen vorzuführen“ oder beständig stolz über seine Entwicklungsfortschritte zu berichten à la „Mein Haus, mein Auto, mein Kind“. Damit wird das Kind zum Objekt. Dazu sehen wir die Überbehütung: Das Kind rückt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wenn etwa beim gemeinsamen Essen nur noch über das Kind gesprochen wird. Macht es einmal „Piep“, werden sofort alle Aktivitäten eingestellt, und man wendet sich ganz dem Kind und dessen vermeintlicher Bedürfnisbefriedigung zu. Kinder sind nicht der Nabel der Welt, sondern gleichberechtigte Individuen wie die Erwachsenen um sie herum.
Betonen Sie daher die Autonomie der Eltern so stark?
Schneider: Ja. Wir müssen uns als Erwachsene auch um uns selbst kümmern. Wenn sich Eltern so intensiv auf ihre Kinder konzentrieren, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässigen, wächst ihre Unzufriedenheit. Aber nur zufriedene Eltern können gute Eltern sein. Übermäßiges Kümmern konterkariert in vielen Fällen die bestmögliche Förderung des Kindeswohls.
“Nur zufriedene Eltern können gute Eltern sein”
In mancher medialen Darstellung kann man den Eindruck gewinnen, dass es den Kindern in Deutschland heute sehr schlecht gehen würde – entweder verwahrlost oder verwöhnt. Was sind Ihre Erkenntnisse?
Das war ein Anlass zu diesem Buch: Wir wollten eine Kritik der öffentlichen Rhetorik über Elternschaft und Familienleben schreiben, da medial überwiegend skandalisiert und problematisiert wird. Jedoch stellen wir in der Praxis fest, dass es in vielen Familien sehr gut läuft. Die aktuelle soziale Konstruktion von Kindern lautet: verletzlich, schutzbedürftig und bedroht. Folgt man dem Forschungsstand der Pädagogik, Psychologie und Soziologie, konnten Kinder noch nie so zufrieden, so gesund und so behütet aufwachsen wie heute. Auf diese Diskrepanz zwischen Diskurs und der wissenschaftlichen Beobachtung kindlicher Lebenslagen wollen wir hinweisen und die Folgen sichtbar machen.
Welche wären das?
Vor allem dieser Erwartungsdruck, der auf den Eltern lastet – auch durch die sozialen Medien. Wenn ein Kind mit 14 Monaten noch nicht laufen kann, kam früher vielleicht ein kritischer Kommentar einer Freundin, den man gut wegstecken konnte. Heute erleben wir soziale Vergleichsprozesse praktisch mit der gesamten Welt. Damit steigt der Erwartungsdruck, alles richtig zu machen. Das vergrößert die Unsicherheit der Eltern und zugleich den Druck auf die Kinder.
Sie sehen die Selbstwirksamkeitserfahrung der Kinder als Schlüssel zu psychischer Gesundheit. Genau dies gleicht einem Balanceakt. Dem Kind mitzugeben: Lauf los, du schaffst das. Gefolgt von der bangen Sorge: Gebe ich zu viel Freiheit? Wie löst man diesen Konflikt?
Dies ist eine zentrale Aufgabe im Erziehungsprozess: die angemessene Balance zwischen Schutz und Freiraum. Was ist das Ziel von Erziehung? Unsere Antwort: Eine gelingende Erziehung ist untrennbar mit der Autonomieentwicklung des Kindes verbunden. Es muss zu einem selbstverantwortlichen Menschen reifen können. Dazu gehört das Ausloten von Freiräumen, einschließlich der gelegentlichen Erfahrung des Scheiterns.
Das klingt entlastend.
Genau. Unsere grundsätzliche Einschätzung: Wir räumen den Kindern zu wenig Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten ein. Wir nehmen ihnen zu viel ab, tragen den Schulranzen, erledigen ihre Hausaufgaben. Das kann negative Folgen hervorrufen. Wenn wir es unter dem Stichwort Überbehütung zusammenfassen, birgt diese ein hohes Risiko für eine geringere Motivation der Kinder, irgendetwas selbst zu tun. Hinzu kommen höhere Risiken für die psychische Gesundheit und die Lebenszufriedenheit. Wir reden hier von der „erlernten Hilflosigkeit“, die oft einhergeht mit einem höheren Risiko für depressive Verstimmungen und Angststörungen. Insofern ist es entlastend für die Eltern und gut für die kindliche Entwicklung, angemessene Freiräume zu gewähren.
Wie wirken sich diese Dinge konkret im Alltagserleben aus?
Manche Eltern verbringen sehr viel Zeit mit ihren Kindern. In dieser Blase stapeln sie Bausteine oder bauen Lego. Unser Ansatz zielt aber darauf, die Kinder langsam, aber mit einer gewissen Entschlossenheit in alle Fähigkeiten des Lebens zu führen. Wenn man den Hauptteil der Zeit, die man mit seinen Kindern verbringt, mit Spielen verbringt und sie aus den Alltagszusammenhängen rauslässt, reicht das nicht. Wir haben mit Kindergärtnerinnen gesprochen, die ein Beispiel genannt haben, das sie besonders fürchterlich finden. Zwei Kinder, drei und vier Jahre alt, spielen im Sandkasten. Es gibt fünf Schaufeln, aber beide Kinder wollen genau die gelbe. Sie streiten sich. Dann sitzen die Mütter daneben und versuchen, den Streit für ihre Kinder zu klären. Damit hat man einen Fehler gemacht. Die Kinder müssen selbst darauf kommen, wie man mit dieser Situation klarkommt. Das ist Befähigung. Je mehr man den Kindern Verantwortung abnimmt und Entwicklungsmöglichkeiten bremst, umso weniger Autonomie und Kompetenz können sie entwickeln. Insofern geht es hier um eine Balance zwischen sinnfrei und sinnvoll verbrachter Zeit.
Norbert F. Schneider studierte Soziologie, Psychologie und Pädagogik. Er leitete das BiB und beriet die Bundesregierung, unter anderem beim Familienbericht
Quelle: Die Hoffotografen
Das erinnert an die „Schlüsselkinder“.
Das ist ein schönes Beispiel. Ich war selber auch eins. Mir hat es nichts ausgemacht, dass meine Mutter an drei Nachmittagen gearbeitet hat. Manchmal war sie da, manchmal nicht. Das habe ich auch gut gefunden. Der entscheidende Punkt: Was ist das Ziel des Ganzen? Will man, dass ein Kind an den Nachmittagen die Empfindung hat: „Oh, es wäre doch jetzt schön, wenn die Mutter da wäre und ich nichts erledigen muss“? Für das Erwachsenenleben hat man damit nicht gelernt, Dinge selbstständig anzupacken und zu erledigen. Oder sagt man: Okay, da muss man als Kind durch, und als Erwachsener profitiert man massiv davon und kommt mit Aufgaben und Umständen sehr viel leichter klar, weil man diese Fähigkeiten gelernt hat.
Sie vergleichen die Elternschaft mit Führungsverhalten. Was bedeutet das konkret?
Als Elternteil muss ich akzeptieren, dass ich natürlicherweise einen Erfahrungs-, Wissens- und Kompetenzvorsprung habe. Das heißt, ich muss Ziele und Regeln formulieren, muss deren Einhaltung kontrollieren und Sanktionen aussprechen, wenn sie massiv verletzt werden. Das ist wichtig für die Kinder und ihre Entwicklung, ebenso wie für die Eltern. Der heutigen Elterngeneration fällt dieses Setzen von Grenzen häufig schwer, weil die Energie, der Wille oder die Einsicht fehlen, dass Grenzen wichtig sind. Wir meinen, Heranwachsende müssen lernen, mit Grenzen, Knappheitserfahrungen und nicht erfüllten Wünschen in einer Konsumgesellschaft umzugehen. Das ist ein wichtiger Lernprozess. Wer den Kindern diese Erfahrungen vorenthält und sie mit Geschenken und Gütern überhäuft, handelt kontraproduktiv zu dem, was man eigentlich möchte – nämlich das Kindeswohl zu fördern.
Welche Rolle spielt der schulische Erfolg der Kinder?
Kompetenzentwicklung schließt nicht nur schulische Bildung ein, sondern die Social Skills gehören ebenso dazu. Für die gesunde Entwicklung des Kindes gehört es dazu, dass es sich sozial eingebunden fühlt. Schulerfolg misst sich nicht nur an guten Noten – vielleicht sogar gar nicht –, sondern daran, ob ein Kind gerne in die Schule geht, ob es dort Freunde hat, ob es dort klarkommt. Bildungspolitisch würde ich mir wünschen, dass man eine Aufwertung vonmittleren Schulabschlüssen, dualen Ausbildungswegen und handwerklichen Abschlüssen betreibt und nicht immer weiter auf die Erhöhung von Studienquoten setzt. Es würde Druck von den Eltern nehmen, wenn es einen Plan B gäbe. Wenn Eltern sagen können, dass das Kind nicht zwangsläufig die Hochschulreife braucht, um ein gutes, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Wieso müssen etwa 47 Prozent aller Jugendlichen unbedingt Abitur machen?
In Ihrem Buch schreiben Sie auch über das „sturdy parenting“-Konzept. Was bedeutet das?
Das kann man als robuste und stabile Elternschaft übersetzen. Hier geht es darum, die Wünsche und Bedürfnisse der Eltern und ihrer Kinder stets auszubalancieren und nicht einseitig zu gewichten. Eltern nehmen die Gefühle und Wünsche der Kinder wahr und bestätigen sie. Das klingt in etwa so: „Ich weiß, du hättest gern ein Eis und bist enttäuscht, wenn du keins bekommst; ich möchte auch manchmal ein Eis und kaufe es mir nicht.“ Die New Yorker Psychologin Becky Kennedy vermarktet dieses Konzept sehr erfolgreich über Social Media. Ihre Grundidee: Wenn Eltern die Gefühle der Kinder anerkennen, ohne sie in jedem Fall zu befriedigen, lernt das Kind, seine Gefühle als grundsätzlich in Ordnung wahrzunehmen und sie zu regulieren, anstatt sie zu unterdrücken. Grenzen setzen, Bedürfnisse respektieren, zugewandt reagieren, sich nicht in den Hintergrund stellen, Frustrationen ertragen – das sind die Säulen von „sturdy parenting“. Im Fokus stehen widerstandsfähige Eltern und selbstständige, resiliente Kinder.
Welche Rolle spielen die Eltern als Vorbild?
Eltern haben immer eine Vorbildfunktion. Sie müssen sich ständig selbst beobachten und reflektieren, ob sie in allen Bereichen ein gutes Vorbild für ihre Kinder darstellen. Man kann das Kind etwa nicht ermahnen, das Smartphone wegzulegen, wenn man als Elternteil selbst den ganzen Tag daran klebt. Das Problem ist nicht die Handynutzung der Kinder. Das Problem ist die Handynutzung der Eltern. Weil Kinder Verhalten abschauen. Gute und erfolgreiche Vorbilder sind natürlich wichtig, aber wir wissen aus der pädagogischen Forschung, dass Kinder zwei Umgangsformen mit Vorbildern zeigen: Nachahmung oder Reaktanz. Kinder können nachahmen, übererfüllen oder reaktant ablehnen, was sie von den Eltern vorgelebt bekommen. Es gibt viele Kinder, die beruflich erfolgreiche und hochengagierte Eltern haben, doch auch den Stress im Job sehr genau wahrnehmen und die knappe verfügbare Familienzeit. Diese Kinder können ebenso sagen: So ein Leben will ich auf keinen Fall. Aus dem beruflichen Erfolg der Eltern leitet sich keine Gesetzmäßigkeit ab, dass deren Kinder gleich erfolgreich werden. Es kann genau das Gegenteil geschehen.