DER TANZ DER POLARLICHTER

Magische Nachthimmel, eine zugefrorene Ostsee und Rentiere, die durch die Landschaft ziehen. Schwedisch-Lappland bietet Winterabenteuer der feinsten Sorte

Nach Mitternacht pocht es an der Holztür. „Die Polarlichter sind gekommen!“ Ich schnappe mir mein Handy, folge meinem Gastgeber Johan und finde mich in einer verzauberten Nachtkulisse wieder: Auf dem weiß schimmernden Schnee heben sich schemenhaft die Hütten unserer Lodge ab. Darüber ein klarer Himmel, auf dem die Natur ein Farbenkonzert spielt, wie ich es noch nie gesehen habe. Links erhebt sich ein grüner Schleier, der Verästelungen in Tiefgrün bildet. Rechts sprießt eine pinke Kaskade, die sich kurz darauf in tiefes Violett verwandelt. Dann für ein paar Sekunden Dunkelheit, bevor die bunte Sinfonie von Neuem beginnt.

Ich versuche, einen Takt zu entdeckten, einen Rhythmus. In meiner Fantasie höre ich Musik, die das Farbenspiel begleitet. Beethovens „Fünfte Sinfonie“ wäre passend, auch Edvard Griegs „Peer Gynt Suiten“. Oder etwas Dramatisches von Rachmaninov. Doch dieses Spektakel geschieht in aller Stille. Ich höre nur die leisen „Aahs“ und „Oohs“ der anderen Gäste hier am Ufer des Flusses Lainio, knapp über dem nördlichen Polarkreis im schwedischen Lappland. Dabei hatte ich niemals damit gerechnet, auf dieser Reise wirklich Polarlichter sehen zu können. Das kam mir wie ein unhaltbares Versprechen vor. Etwas, das nur andere erleben.

Die farbigen Himmelslichter entstehen, wenn elektrisch geladene Teilchen, die die Sonne ins Weltall schleudert, auf das Magnetfeld der Erde treffen. Dieses Naturwunder spielt sich nun wirklich vor meinen Augen ab und lässt mich sprachlos zurück. Welch ein Geschenk! Johan fotografiert die Nordlichter so begeistert, als sähe er sie wie ich zum ersten Mal. Dabei war der Tag bereits aufregend genug. Mit einem Schneemobil, ausgelegt mit Rentierfellen, sausen wir schon morgens durch die winterliche Landschaft zu einem der unzähligen zugefrorenen Seen der Umgebung. Johan bohrt mit einem Eisbohrer drei kreisrunde Löcher in die etwa 80 Zentimeter dicke Fläche und zeigt Fotograf Maxim und mir, wie wir die Angel bewegen sollen: leicht auf und ab, mit Pausen dazwischen, „damit der Fisch eine Chance hat, zuzuschnappen“.

Wir stehen sehr lange auf dem Eis, atmen die klare, kalte Luft, die knapp über dem Gefrierpunkt liegt. Jetzt ist April, eine von acht Jahreszeiten, die es in Lappland gibt, wie Johan uns erklärt. Im April haben wir „winter spring“: Die Sonne hat bereits Kraft und scheint uns angenehm warm ins Gesicht. Die Natur gibt den Rhythmus vor. Schon jetzt geht die Sonne früher auf und später unter als bei uns in Deutschland, zwischen sechs und 20.30 Uhr ist es hell. Noch viel betriebsamer, erklärt uns Johan, sei aber die Zeit, bevor sich die Natur schlafen lege. „Dann sammeln wir, was wir kriegen können – Beeren, Kartoffeln, Möhren – und legen alles ein“, erzählt er. Neben Wild jagt er auch Perl- und Schneehühner.

Zugleich edel und gemütlich: Ein Cottage des Lapland Guesthouse

Gäste aus aller Welt treffen in diesem kleinen Ort aufeinander

Seit 25 Jahren betreibt Johan Stenevad, 60, mit seiner Frau Eva das „Lapland Guesthouse“ im Örtchen Kangos mit weniger als 300 Einwohnern. Ihre Gäste kommen aus aller Welt, von Kamerun über Peru bis Australien. Eine Frau aus Argentinien war vor allem wegen der Nordlichter angereist. Am Ende blieb sie mehrere Jahre, um für die Lodge zu arbeiten. Johan selbst ist selten anderswo in der Welt unterwegs, zu verbunden fühlt er sich mit seiner Heimat. „Wenn man einen Ort gefunden hat, den man liebt, muss man nicht reisen. Ich möchte nirgendwo anders sein als hier. Wozu auch, wenn doch die Welt zu mir kommt?“, sagt er undschaut mit seinen wasserblauen Augen in die Ferne. Jetzt wirkt der kräftige Lappländer, der nicht nur Holz hacken, einen Elch zerlegen und sein Schneemobil reparieren kann, fast philosophisch. Plötzlich ein Ruf von Maxim: Bei ihm zuckt die Leine. Ein kleiner Dorsch wird zum Fang des Tages. Auch bei Johan hängt kurze Zeit später einer an der Angel.

Zugefrorene Ostsee nahe Luleå, Foto: Maxim Schulz

Nur ich habe kein Glück, doch das macht nichts. Immerhin bin ich nun tiefenentspannt: Eisangeln wirkt fast meditativ. Die zwei Dorsche lassen wir liegen, als Geschenk für die Vögel oder die Rentiere. Die ikonischen Tiere sind die Lebensgrundlage der Samen.

Ein besonders knuffiges Exemplar habe ich bei einem Rentier-Spaziergang kennengelernt: Päri. Ebenfalls in einem reinweißen Winterwunderland, nahe der Stadt Luleå am Bottnischen Meerbusen. Der trägt Anfang April noch immer eine dicke Eisdecke, die eine ganze Herde Rentiere aushalten könnte. Die Einheimischen donnern sogar mit Autos darüber. Päri zieht mich in gemächlicherem Tempo, aber sehr bestimmt auf die gefrorene Ostsee. Schleckt zwischendurch konzentriert an der Rinde der Kiefern, lässt sich geduldig das weiche, braungraue Fell streicheln. Päris Chefin heißt Marita Sikku. Sie hat sich vor den Toren Luleås ihren Lebenstraum erfüllt: getreu ihrem samischen Erbe zu leben und anderen ihre Kultur zu vermitteln. Sie lädt uns in ihr Zelt ein, Lavvu genannt. Drei Meter ist es hoch, sechs Menschen können darin schlafen. Als Kind hat sie mit ihren Eltern, Großeltern und Geschwistern jedes Jahr mehrere Wochen in so einem Zelt gewohnt, erzählt sie. Maxim ist begeistert: „Ich würde mich hier sofort für mehrere Wochen ablegen.“ – „Ich habe es auch geliebt“, sagt Marita, während sie uns ein samisches Fladenbrot, traditionell mit Rentierblut gebacken, Kaffee und heißen Preiselbeersaft anbietet.

Bis heute verbringt sie ihre Zeit abwechselnd in Luleå und dem 340 Kilometer nördlich gelegenen Kiruna. „Jeden Winter treiben wir unsere Rentiere aus den Bergen nach Luleå. Und im Sommer kehre ich nach Kiruna zurück, wo meine Rentiere in den Bergen leben.“ Die Stadt mit gut 22 000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist nicht nur für Nordlichter berühmt, auch der Bergbau spielt hier eine große Rolle – er ist der größte Arbeitgeber der Region. So zentral sind das Erz und die Seltenen Erden, dass derzeit die ganze Stadt umzieht, um sie aus dem Boden holen zu können: Im vergangenen August machte eine fast 700 Tonnen schwere Holzkirche Schlagzeilen, die mithilfe einer mobilen Plattform im Schritttempo transportiert wurde. Bis 2040 soll Kiruna umgesiedelt sein.

Und die Rentiere? Marita zeigt uns atemberaubende Luftaufnahmen, auf denen Tausende Rentiere mithilfe von Hütehunden zusammengetrieben werden. Sie selbst und ihre Verwandten halten die Herde mit Schneemobilen zusammen. Wenn man sich länger mit Marita unterhält, erzählt sie auch, was die Samen von den Umsiedlungen, von Windrädern und anderen Bauvorhaben halten, die die Routen der Rentiere durchschneiden und für die Wälder abgeholzt werden. Die Samen sind von all dem wenig begeistert.

Für uns geht es nach den Besuchen bei Marita und Johan weiter in den Norden. Wenige Kilometer vor der Grenze zu Finnland liegt der See Liehittäjäjärvi und nicht weit von seinem Ufer das „Huuva Hideaway“ von Pia und Henry Huuva, 59 und 68 Jahre alt. Mehr „Hideaway“ können wir uns während der Anfahrt kaum vorstellen.

Die Straßen werden schmaler, die Birkenwälder dichter

Die Straßen werden immer schmaler, die umgebenden Birkenwälder immer mächtiger. Jetzt befinden wir uns mitten im Herzland der Samen, Sápmi nennen sie selbst ihren Lebensraum, der sich etwa von Tröndelag in Mittelnorwegen über Schweden und Finnland bis zur russischen Halbinsel Kola erstreckt.

Pia und Henry begrüßen uns herzlich, fast so, als wären wir liebe Verwandte. Er ist samischer Abstammung, doch auch Pia lebt die indigenen Traditionen. Auf ihrem Areal, das sich kilometerweit bis zum See ausdehnt, entdecken wir ein historisches Cottage mit Sauna und Jacuzzi und Schlitten, die man im Stehen fährt. Bei gleißendem Sonnenschein entzünden wir auf dem Eis ein Feuer und bereiten Kaffee nach samischer Art: mit einem Stück Käse, Coffee Cheese, in einer Tasse aus Birkenholz.

Henry zeigt, wie er aus dem Horn des Rentiers Messergriffe schnitzt. Drei seiner Cousins teilen sich eine Herde vo 8000 Tieren, erzählt er. Pia ergänzt: „Du darfst nie fragen, wie viele Rentiere ein Same besitzt. Das wäre so, als würdest du fragen, wie viel Geld er hat.“ Sie erklärt, dass die Samen kein eigenes Land besäßen, nur die Rentiere, die darauf grasen. „Seit 10 000 Jahren leben wir hier.“ Durch die Gespräche mit Pia und Henry fällt mir auf, wie wenig ich über die Samen weiß. Die indigene Bevölkerung ist als „Urvolk“ anerkannt. In Schweden leben etwa 14 600 Samen. Insgesamt 90 000 bis 140 000 soll es in Skandinavien und Russland noch geben. Die Schätzungen gestalten sich schwierig, da ein Same auch in Stockholm wohnen kann, ohne die indigene Herkunft zu betonen. Heute wie damals handeln die traditionell lebenden Samen mit Fellen von Rentieren und Füchsen, mit Fisch und Fleisch.

Pias und Henrys Tochter Maja kommt zum Abendessen – geräucherter Elch und saftige Forellen aus den umliegenden Flüssen – in einem leuchtend roten, traditionellem Kleid mit verziertem Gürtel. Die 24-Jährige erzählt, dass die Muster und Farben der Kleidung auf die Familie hinweisen, sodass die Samen sich gegenseitig zuordnen können. Nach dem Essen steige ich in den Jacuzzi, um den Himmel zu beobachten. Doch in jener Nacht zeigen sich die begehrten Polarlichter nicht. Dennoch genieße ich es, mich unter einem Dach aus Kiefern in der winterlichen Stille im Nachthimmel zu verlieren.

Manche Huskys haben verschiedenfarbige Augen

Der nächste nordische Glücksmoment stellt sich am nächsten Tag ein, allerdings weniger still. Teddy, Vistas, Sasa, Cayenne, Bianca, Nitro und Champ warten ungeduldig darauf, losrennen zu dürfen. Unter den sechs Schlittenhunden sind Alaskan Malamutes, die größten und kräftigsten ihrer Art, sowie Sibirische Huskys. Nach der Einweisung entscheide ich mich spontan, lieber relaxt im Schlitten zu sitzen, als dahinter stehend die sechs Energiebündel zu bremsen, zu lenken und gleichzeitig zu versuchen, das Gleichgewicht zu halten. Das darf Maxim tun. Schon vor dem Start werfen sich die Hunde voller Vorfreude ins Geschirr. Dann beginnt die temporeiche Fahrt. Ich bin baff, dass die Hunde ihre großen und kleinen Geschäfte sogar während des Rennens erledigen. Mit bis zu 20 Stundenkilometern geht’s durch den Schnee. Klingt wenig – mir kommt es sagenhaft schnell vor.

Vor dem Schlafengehen laufe ich noch einmal mit dem Handy in der Hand ein Stück den Berg hinauf. Vielleicht zeigen sie sich ja doch noch einmal, die Polarlichter. „Die Seelen der Verstorbenen reisen mit den Nordlichtern“, so heißt es beiden Samen. Und tatsächlich: Auf einmal leuchten sie auf, wie zum Abschied. Irgendwann stecke ich das Handy weg. Und schaue nur in den farbig glühenden Himmel.

Reise-Informationen

HINKOMMEN UND RUMKOMMEN

Viele deutsche Flughäfen bieten Direktflüge nach Stockholm an (ab ca.200 Euro). Von dort aus starten mehrmals täglich Flüge nach Luleå oder Kiruna, etwa mit SAS (ca. 50 Euro, flysas.com). Charmante Alternative: Ab Stockholm mit dem „Artic Circle Train“ den Nachtzug in den Norden nehmen. Stationen: Boden, Luleå, Gällivare und Kiruna (Liegeplatz ab ca. 26 Euro, sj.se und norrtag.se).

ÜBERNACHTEN

Clarion Hotel Sense.

Ein Stadthotel mit modernen Akzenten wie farbenprächtiger Lobby, Fotokunst und Spa. 192 Zimmer in zentraler Lage nah am Hafen – idealer Start für die Reise in den Norden (DZ/F ab ca. 107 Euro, Luleå, Skeppsbrogatan 34, Tel. 09 20/45 04 50, clarionhotel.se).

Lapland Guesthouse.

Die Zimmer und Cottages bieten Platz für 30 Gäste. In Begleitung von Eva und Johan kann man Schneeschuhwandern, Schneemobilfahren, Eisbaden und im Sommer Rad fahren, Angeln und Wandern (DZ/F ab ca. 175 Euro, Kangos, Norra Byavägen 132, Tel. 070/343 54 20, laplandguesthouse.com).

Huuva Hideaway.

Die „Ajitta”-Lodge in einem Holzhaus aus dem 18. Jahrhundert bietet Platz für sechs Gäste. Bei Pia und Henry lernt man viel über Handwerkskunst, Esskultur und Musik der Samen. Im Sommer führt Pia auf Foodtouren durch die Natur, samische Spezialitäten werden draußen serviert (DZ/F ca. 300 Euro, Övertorneå, Liehittäjä 28, Tel. 070/671 11 05, huuvahideaway.com).

Lapland View Lodge.

Atemberaubende Sicht bis nach Finnland: Die Chalets mit bodentiefen Fenstern liegen über dem Torne-Tal. Von hier sieht man im Sommer die Mitternachtssonne oder im Winter die Nordlichter. DZ/F ab ca. 240 Euro (explorethenorth.se)

GENIESSEN

CG’s.

Lebhaft und gemütlich: In dem Restaurant im Herzen von Luleå werden schwedische und samische Spezialitäten innovativ kombiniert. Das butterweiche Rentiersteak kommt direkt vom Holzofengrill, die Hummersuppe ist fein (Luleå, Storgatan 9, Tel. 09 20/20 07 00, restaurangcg.se).

Bryggargatan Bistro och Bar.

Die Küchenchefs Sarah und Jon Oskar heben mit ihren arktischen Menüs die nordische Küche auf ein neues Level. Im Mittelpunkt stehen regionale Zutaten wie geräucherte Forelle, Moltebeeren und Käse (Skellefteå, Strandgatan 32, Tel. 09 10/21 16 50, bryggargatan.se).

Norbottens Destilleri.

Für Aquavit, Wodka oder Glögg schöpft man hier aus den botanischen Aromen der Landschaften entlang des Kalix-Flusses. Tipp: der „Forest Gin“, der tatsächlich nach frischen Kiefernadeln schmeckt (Töre, Kyrkvägen 1E, Tel. 09 23 30 10 70, norrbottensdestilleri.com).

ERLEBEN

Rentiere treffen.

In Luleå erzählt Sami-Frau Marita Sikku Besuchern gern von den Traditionen ihres indigenen Volkes. Zwischen Dezember und März sind Spaziergänge mit einem ihrer Rentiere nahe Luleå möglich (Luleå, Arcusvägen 110, Tel. 07 02/73 40 36, dalvvas.se).

Jokkmokk Wintermarkt.

Der farbenprächtige Markt in der kulturellen Hauptstadt der Samen Jokkmokk findet 2026 vom 5. bis zum 7. Februar statt. Mit Handel, Musik, Tanz, Workshops und Essen ist dieses Event das jährliche Highlight der samischen Kultur, aber natürlich auch für nicht samische Besucher ein Fest (jokkmokksmarknad.se).

Gammelstads Kirchstadt.

Bauern bauten die Holzhäuser in Luleå ab dem zwölften Jahrhundert. Heute zählt das Ensemble zum Unesco Welterbe. (visitgammelstad.se)

Polarlichter finden

Verschiedene Apps wie „Aurora“ zeigen auf der Startseite an, wie hoch die Wahrscheinlichkeit am eigenen Standort ist, aktuell Polarlichter sehen zu können. Diese Wahrscheinlichkeit wird als KP-Wert, (kurz für planetarische Kennziffer der geomagnetischen Aktivität) angegeben. Noch bessere Daten liefert die Website des US-amerikanischen „Space Weather Prediction Center“: swpc.noaa.gov/products/ aurora-30-minute-forecast

Erschienen in BRIGITTE

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