Aufnahme aus dem Hachschara-Landwerk in Ahrensdorf, Brandenburg, 1937: Die Lebensgeschichten jener, die dort lernten, sind kaum erforscht Foto: Bildarchiv Pisarek / akg-images / picture alliance
»Kommen Sie schnell, wir werden hier überfallen.«
Als die Männer gegen drei Uhr morgens in ihr Haus kamen, griff Käte Wolff zum Telefon und rief das 1. Flensburger Polizeirevier zu Hilfe: »Kommen Sie schnell, wir werden hier überfallen. Man schlägt alles kurz und klein!« Was sie nicht ahnte: Die Polizei war bereits in ihrem Haus. Es waren jeneMänner, die auf den Hof eingedrungen waren.
Es war die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Jene Nacht, die als Reichspogromnacht in die Geschichte eingegangen ist, weil organisierte Nationalsozialisten und deren Anhänger Synagogen, Geschäfte jüdischer Besitzer und auch jüdische Menschen angriffen. Männer der Gestapo, der SS, SA und der Schutzpolizei überfielen auch den Gutshof Jägerslust am Stadtrand von Flensburg, jenen Hof, auf dem Käte Wolff lebte. Etwa ein Dutzend Männer durchkämmten die Räume, zerschlugen Fensterscheiben und Möbel, misshandelten die Bewohner mit Gummiknüppeln und Gewehren.
Ihnen ging es darum, jüdisches Leben zu zerstören. Denn Gut Jägerslust war einer der Hachschara-Höfe im Deutschen Reich. Eine Art Kibbuz, wie es die jungen Juden nannten, die mit Familie Wolff auf dem Gut lebten: eine jüdische Gemeinschaftssiedlung. Hier sollten sie auf ihre Alija – die Auswanderung in das vorstaatliche Israel (Erez Israel) –vorbereitet werden. Sie lernten Gemüseanbau, Tierhaltung, Milchwirtschaft, Handwerk, Gärtnerei, trainierten, wie man ein Stück Land urbar macht.
Die Geschichte der Hachschara-Höfe ist kaum bekannt. Erst 2008 erschien ein Buch des Journalisten und Lokalhistorikers Bernd Philipsen, für das er die Geschichte von Käte Wolff und dem Hof Jägerslust recherchiert hat. 2024 erschien eine Untersuchung des Münsteraner Lokalhistorikers Gisbert Strotdrees über jüdisches Landleben in Westfalen, in dem er auch dortige Hachschara-Höfe benennt. Erste Höfe entstanden schon nach Ende des Ersten Weltkriegs in der Weimarer Republik, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 gab es mindestens 32 dieser Güter.
Ertüchtigung für ein neues Leben
Auf Gut Jägerslust bereiteten sich Anfang November1938 neun junge Menschen zwischen 18 und 35Jahren aufihre Auswanderung in das britische Mandatsgebiet Palästina vor. Ihre Träume zerbarsten in der Pogromnacht. Das Überfallkommando zerstörte und plünderte das Anwesen. Der Gutsbesitzer Alexander Wolff, Sohn von Käte Wolff, wurde in Unterwäsche und schwer blutend in das Polizeiauto gedrängt, das ohne Licht fuhr und die Nummernschilder verdeckt hatte. Ihm gelang die Flucht aus dem Auto nach Dänemark. Seine Mutter Käte und seine Frau Irma wurden nach einer Nacht aus dem Gefängnis entlassen, flohen nach Berlin, von dort wurden sie deportiert und in den Vernichtungslagern im Osten ermordet. Die neun jungen Juden, die auf Jägerslust gelebt hatten, wurden in das Polizeigefängnis Kiel verbracht, weiter in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Jägerslust wurde schnell »arisiert«: Der Viehbestand und das Inventar wurden im Schnellverfahren versteigert, die Schleswig-Holsteinische Landgesellschaft Kiel übernahm das gesamte Gut.
Gutsbesitzer Wolff, 1938: Ihm gelang die Flucht nach Dänemark Foto: Sammlung Philipsen
Zwischen 1934 und 1938 hatten insgesamt etwa 100 junge Leute auf Gut Jägerslust ihre Hachschara-Ausbildung absolviert. Das Wort bedeutet so viel wie »Ertüchtigung«: Es ging um die Vorbereitung auf ein Leben in Erez Israel, so die hebräisch-historische Bezeichnung, die besonders die zionistische Bewegung vor der Gründung des Staates Israel 1949 gebrauchte.
Nicht nur Ackerbau und Viehzucht wurden in dieser Ausbildung gelehrt, auch die hebräische Sprache, jüdische Geschichte und Kultur sowie das selbstorganisierte Leben in einer Gemeinschaft. Schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatten zionistische Jüdinnen und Juden solche Lehrgänge gefördert, um Auswanderer zu befähigen. Nach 1933 aber bekam die Ausbildung für viele eine neue Bedeutung. Mit ihr war es möglich, eine der streng limitierten Einreiseerlaubnisse nach Palästina zu erhalten. Denn für das Einreisevisum durch die britischen Behörden, ein »Arbeiterzertifikat der Kategorie C«, war der Nachweis einer handwerklichen oder landwirtschaftlichen Ausbildung durch die zionistische Dachorganisation Hechaluz nötig. So konnten die Hachschara-Schüler mit konkretem Ziel dem nationalsozialistischen Deutschland entkommen. Auch Jugendliche unter 18 Jahren wurden nun in speziellen Programmen auf Hachschara-Gütern ausgebildet.
Die jungen Leute kamen oft aus größeren Städten, hatten wenig bis gar keine Ahnung von Landwirtschaft, doch die Höfe waren für sie wie Inseln in einem Meer von Judenhass, eine Rettung. Feste Lehrpläne gab es offenbar kaum, sie variierten von Ort zu Ort. Die Mädchen und Jungen arbeiteten, lernten und aßen in Gemeinschaft. Manche blieben nur wenige Wochen, bis sich die Möglichkeit der Ausreise ergab, andere blieben ein Jahr oder länger. In den ersten Jahren der Nazidiktatur wurden dieAuswanderungen jüdischer Organisationen nicht nur geduldet, sondern waren sogar erwünscht. Das NS-Regime hatte sich anfangs die restlose Auswanderung der Juden zum Ziel gesetzt, wie unter anderem aus einem Memorandum des Sicherheitsdienstes der SS an den General der Polizei und SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich hervorgeht, auch mittels Druck und Terror.
Anfangs war die Auswanderung der Juden das Ziel
Zwischen 1933 und 1938 konnten mehr als 18.000 jüdische junge Menschen zwischen sechs und 25 Jahren aus Deutschland emigrieren, überwiegend nach Erez Israel. 3500 bis 5000 Jugendliche und junge Erwachsene waren darauf in den Hachschara-Lehreinrichtungen vorbereitet worden. Die Güter wurden zwar von jüdischen Organisationen betrieben, sie dienten aber auch Hitlers NSDAP dazu, den Überblick über die Anzahl jüdischer Menschen zu behalten, Namenslisten und Meldestatistiken zu führen und jüdisches Leben zu isolieren.
Im Auftrag der 1933 gegründeten »Reichsvertretung der Deutschen Juden« wurden die mindestens 32 deutschen Hachschara-Lehrgüter unter der Leitung des Diplomlandwirts Martin Gerson aufgebaut, sie waren Teil der jüdischen Selbsthilfe jener Jahre. Gerson leitete mit seiner Frau Bertel den Hachschara-Hof Gut Winkel bei Spreenhagen. Seine Funktion bewahrte ihn nicht davor, dass er, seine Frau und beide Töchter erst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet wurden.
Groß Breesen in Schlesien, Jagdschloss Ahrensdorf und GutWinkel, beide in Brandenburg gelegen, sind drei vergleichsweise bekannte jüdische Lehrgüter. Dass es viel mehr gab, auch in anderen ländlichen Regionen Deutschlands, weiß kaum jemand. Und auch die Lebensgeschichten derjenigen, die dort lernten, sind kaum erforscht. Der Historiker Strotdrees entdeckte durch Zufall in einem 780 Seiten starken Geschichtswälzer über jüdisches Leben in Westfalen einen Vermerk über einen Hachschara-Hof in der Bauerschaft Westerbeck in Westerkappeln im Münsterland: »Da klappten bei mir mehrere Fragezeichen auf: Auswanderungslager? Auf einem Bauernhof? In Westfalen? Für jüdische Jugendliche – und das in der NS-Zeit?«, erklärt er im Interview.
In seinem Buch »Jüdisches Landleben – Vergessene Welten inWestfalen« (erschienen im LV Buch), beschäftigt Strotdrees sich mit den 100 Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die zwischen 1934 und 1938/39 in dem Kibbuz Westerbeck lebten, der nach den damaligen Eigentümern auch »Hof Stern« genannt wurde. Die Chawarim – die Schüler – kamen aus Städten wie Berlin, Leipzig, Köln oder Düsseldorf, im Durchschnitt waren sie 19 Jahre alt. Das Gut wurde von der Gestapo scharf beobachtet und von der Belegschaft eines nahegelegenen SA-Arbeitslagers bedrängt.» Sie verfolgten uns einzeln und belagerten uns alle im Haus. Ihre mehrfachen brutalen Versuche, unsere Mädchen in ihre Gewalt zu bekommen, konnten wir verhindern. Aber die Angst, wie das weitergehen soll, hat mich in derVerantwortung dort immer verfolgt«, erinnerte sich Gert Löllbach, der zwei Jahre auf dem Hof als Gruppenleiter arbeitete.
Nach dem Krieg schwiegen die einstigen Nachbarn
Die Pogromnacht vom 9. November 1938 setzte auch diesem Hachschara-Hof brutal ein Ende. Das Verwalterehepaar Dora und Siegfried Löwenstein wurde misshandelt, nur einem der vier jungen Männer vor Ort gelang die Flucht, die anderen wurden erst verschleppt, dann ermordet. Die Löwensteins starben im Ghetto von Minsk. Strotdrees schreibt, dass der Hof mit seiner Geschichte und den blutigen Ereignissen 1938 in der Region mit einem starken Tabu belegt war: »Die deutsche Nachkriegsgesellschaft insgesamt hat das Thema NS-Judenverfolgung und Schoah über Jahrzehnte weitgehend verdrängt. Westerkappeln unterschied sich da nicht von anderen Orten. Schon 1945/46 wurden von lokaler Amtsseite die Geschichte der dortigen Juden und des Kibbuz Westerbeck bewusst verdreht, die Ablehnung und Verfolgung verharmlost und die Gewalt der NS-Zeit vertuscht.«
Ehemalige Hachschara Westerbeck: Mit einem starken Tabu besetzt Foto: Gisbert Strotdrees / Landwirtschaftsverlag Münster
Laut Gisbert Strotdrees waren diejenigen, die im November 1938 den Überfall auf den Kibbuz Westerbeck begingen, SA-Leute aus der Nähe. Nach Augenzeugenberichten waren Bürger des Ortes, sogar Nachbarn aus der Bauerschaft beteiligt. »Die Täter sind längst tot, unmittelbare Zeitzeugen gibt es nicht mehr. Aber die Nachfahren leben. In Familien und Nachbarschaften werden individuelle Erzählungen weitergegeben. Das entfernt sich häufig von den historischen Fakten, ist aber mit vielen Emotionen verknüpft, so wie mündlich weitergegebene Erinnerung nun einmal funktioniert. Zu diesen Emotionen zählen ganz sicher Scham und Entsetzen über die Untaten der Eltern- und Großeltern-Generation. Hinzu kommt eine oftmals große Unsicherheit beim Umgangmit dem Themenfeld Judentum und Antisemitismus. Es gab Täter, Mittäter, Beteiligte, Helfer, Zuschauer – und das in vielerlei Abstufungen und Schattierungen«, so der Historiker.
Ilse Bähr hatte Glück, sie konnte Deutschland vergleichsweise früh verlassen. Von Juli bis Dezember 1935 absolvierte sie ihre Hachschara im Kibbuz Westerbeck und wanderte nach Palästina aus. Dort angekommen, heiratete sie, ihr Mann Hans Joseph und sie selbst waren in der Landwirtschaft tätig. Ihr Bruder Kurt folgte. Drei Jahre später erreichte Ilse ein Brief ihrer Mutter aus der alten Heimat. Abgestempelt am 11. November 1938, die Briefmarke kopfüber geklebt, offenbar in Eile:
»Meine lieben Kinder. Mit schwerem Herzen muss ich Abschied von Euch nehmen. …Meine lieben Kinder, weint nicht der Allgütige hat es mit unsso beschlossen es haben so ewig viele diesen Weg gewaehlt. Es tut mir unendlich leid, Euch diesen großen Kummer bereiten zu müssen. Doch eine Qual für alle. Gott wird es mir verzeihen. Haltet gut zusammen, wenn unser geliebter Vater nochmal zu Euch kommen sollte, gibt ihm die ganze Liebe, die Ihr für mich hattet. Meine letzten Gedanken seit Ihr und mein über alles geliebter Mann. Eure in Ewigkeit weilende Mutti.«
In der Pogromnacht waren Josephine Bähr und ihr Mann Leopold in ihrem Haus überfallen worden. Josephine Bähr wurde verletzt, ihr Mann Leopold nach Hannover ins Gefängnis verschleppt, dann in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Josephine Bähr beendete ihr Leben am 11. November 1938, sie konnte das Trauma nicht aushalten. Informationen über das weitere Schicksal und jenes ihrer Familien hat Strotdrees bisher nur für wenige Schüler vom Hof Westerbeck gefunden: »Ich möchte für sämtliche 100 Westerbeck-Jugendliche klären, wo sie geblieben sind und was mit ihnen geschehen ist. Ich hoffe, dass ich noch Aufzeichnungen, Briefe oder Ähnliches finde. Ich wüsste gerne mehr über den Alltag der Jugendlichen auf dem Hof zwischen 1934 und 1938/39. Klären möchte ich auch, was genau in der Pogromnacht 1938 und den Wochen danach auf dem Hof geschehen ist«, sagt Strotdrees im Interview. Auch Bernd Philipsen, der die Vorkommnisse auf GutJägerslust erforscht hat, ist schon seit Jahren mit Schicksalen und Lebenswegen beschäftigt. Für sein Engagement für die Geschichte jüdischen Lebens in Norddeutschland erhielt er 2023 den Eintrag in das Goldene Buch der Stadt Flensburg.
Am Moses Mendelssohn Zentrum der Universität Potsdam wurde 2022 das Projekt »Hachschara als Erinnerungsort« gegründet. Namen, Orte und Literatur werden hier gesammelt und archiviert.