Schnee im Lager: Die Kinder in den Arbeitslagern suchten sich ihre Momente des Glücks. Obwohl ihr Alltag von Gewalt und Hunger geprägt war
Verbotene Liebe während des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren danach
Affären mit Zwangsarbeitern, Besatzungssoldaten oder Kriegsgefangenen bestraften die Nazis hart. Liebesbeziehungen existierten dennoch – und daraus entstanden Tausende Kinder, die mit den Gefühlen von Scham und Stigma aufwuchsen
Wie viele könnten es sein? Im Januar 1942 nannte SS-Chef Heinrich Himmler, Hitlers mächtigster Vollstrecker, die Zahl von 20.000 Kindern aus sogenannten verbotenen Beziehungen. Belegen lässt sich das nicht, zu unübersichtlich war die Situation, nicht alle wurden registriert. Rund 20 Millionen Menschen wurden während des Zweiten Weltkriegs zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich und in besetzten Gebieten herangezogen und teils verschleppt: Männer, Frauen, Kinder, sie kamen aus Russland oder der Ukraine, aus Polen , Frankreich, Italien , Belgien oder den Niederlanden. Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter mussten in Lagerbaracken unter elenden Bedingungen hausen und für deutsche Firmen schuften. Es war eine Form der Sklaverei und endete oft tödlich, etwa jeder Vierte starb.
Trotz dieser Umstände und rigider Strafen kam es zu verbotenen Beziehungen, im Nazijargon »GVVerbrechen « (GV für Geschlechtsverkehr). Liebschaften wurden drakonisch bestraft. Ging eine verheiratete deutsche Frau etwa eine Liaison mit einem Russen ein, während ihr Mann an der Front kämpfte, musste sie mit ihrer Hinrichtung rechnen.
Die Schicksale der Zwangsarbeiter recherchieren Historiker mühsam aus zahlreichen Quellen, aus Archiven, Akten der Gesundheitsämter oder Listen über den Verlust persönlicher Dinge nach Bombenangriffen. Und die Kinder der Zwangsarbeiter? Wenn sie nicht abgetrieben wurden, gab man sie oft zur Adoption frei oder vertuschte ihre Herkunft.
»Du gehörst nicht zu uns«
Jack-Peter Kurbjuweit, geboren 1945 im Flüchtlingslager Watenstedt-Salzgitter. Mutter: Vertriebene aus dem Sudetenland, Vater: griechischer Zwangsarbeiter
»Dieser Mann hat nie gelacht. In meinen Gedanken trug er immer noch seine Wehrmachtsuniform. Dieser Kurbjuweit, von dem ich glaubte, er sei mein Vater, und der mich prügelte. Mit allem, was er in die Hände bekam.Meine Mutter war schwanger mit mir, als sie im Sommer 1945 von jetzt auf gleich als Sudetendeutsche aus Tschechien vertrieben wurde. Im Flüchtlingslager Watenstedt-Salzgitter in Niedersachsen lebten etwa 15.000 Menschen beengt in Baracken und arbeiteten in der Stahlproduktion der ehemaligen Reichswerke Hermann Göring, die nach dem Krieg in die staatliche Salzgitter AG umgewandelt wurden. Der schlimmste Ort für mich: die Latrinen. Der blanke Horror. Diese schwarzen Löcher im Brett, man wusste nicht, was tief unten alles waberte. Es gibt auch gute Erinnerungen – wie wir Kinder uns im Lager selbst organisierten, wie wir uns gestützt und geschützt haben. Dieser Kinderalltag war abgekoppelt von der düsteren Welt der Eltern.
Jack-Peter Kurbjuweit mit seinem jüngeren Halbbruder im Sonntagsstaat mitten im Lager
Waffelröllchen als Schlüsselmoment
Eines Morgens war meine Mutter verschwunden. Geflüchtet vor den Schlägen ihres Mannes. Ein Drama für mich, schwindelige Verlorenheit. Sie war mein emotionaler Halt gewesen. Kurz danach zog eine neue Frau mit zwei Töchtern ein. Besser wurde es nicht. Als ich 13 war, schrie diese Frau mich an: ›Du gehörst nicht zu uns. Das ist doch gar nicht dein Vater!‹ Ein Schlüsselmoment Aufgelöst flüchtete ich, versteckte mich bei derFamilie eines Freundes, dann bei meiner Großmutter. Mit 14 Jahren begann ich eine Ausbildung und bekam einen Vormund, ein Zimmer, ein eigenes Leben. Der Kontakt zur Mutter? Spärlich-reserviert. Vor ihrem Tod 1971 ließ sie mir einen Zettel mit Namenund Geburtsdaten zukommen. Drei Brüder, der Älteste sei mein Vater: Pietro Dolcetti, Grieche mit italienischen Wurzeln. Den Zettel verwahrte ich, schob den Gedanken an richtige und falsche Väter aber weit weg, damit wollte ich nichts zu tun haben. Es war zu stark mit Scham behaftet.
Familienfoto: Kurbjuweits Eltern Traudel und Pietro (rechts) und die Großeltern
Waffelröllchen als Schlüsselmoment
Inzwischen war ich verheiratet, hatte einen tollen Sohn, konzentrierte mich auf meine Familie und meine Arbeit. Bis ich 50 wurde und im Griechenlandurlaub Waffelröllchen der Sorte Caprice kaufte. Ich öffnete die Dose, innen stand ›Dolcetti‹. Das bedeutet ›Süßigkeit‹ – der Nachname meines Vaters. Ein Schlüsselmoment. Ich sah Telefonbücher auf der griechischen Post durch, fand drei Einträge und formulierte einen Brief an diese Anschriften. Vorsichtig, man weiß ja nicht, was man auslöst. Ein Jahr später sendete ich den gleichen Brief erneut. Nach Monaten meldete sich ein Cousin. Ich traf ihn in Athen und lernte dann Takis kennen, den jüngsten Bruder meines Vaters. Eine Erlösung. Wir reisten gemeinsam an die alten Orte der Lager in Tschechien. Mit meiner Frau besuchten wir seine Familie in Athen. Wir redeten, weinten, feierten gemeinsam mit etwa 20 Verwandten, ich sollte griechische Tänze lernen.
Ich folgte meinem inneren Film
Doch meine innere Unruhe wuchs. Was war aus meinem Vater Pietro geworden? Warum wurde nicht geredet? Ein Freund, von Beruf Richter, nahm Takis ernst ins Verhör: ›Peter hat das Recht zu wissen, wo sein Vater lebt‹. Takis versprach, ihn zu suchen. Heiligabend 2005 der Anruf: ›Hast du was zu schreiben?‹ Endlich eine Adresse. In meinem inneren Film, der
seit Jahren lief, fuhr ich los und klingelte an einer Tür. Meine Frau meinte, ich soll vorher anrufen. Nein, ich folgte meinem Film, stieg ins Auto und fuhr über vereiste Straßen. Am Abend stand ich in Kandern an der französischen Grenze vor einem dunklen Haus. Klingelte. Wartete. Klingelte. Nichts. Dann ging das Licht an, eine Frau ließ mich ein. In der Küche saß jemand mit Handtuch über dem Kopf. Pietro Dolcetti inhalierte Wasserdampf. ›Guten Abend, ich bin dein Sohn‹, begrüßte ich ihn. Wir redeten die halbe Nacht. Leider war er schon vom Krebs gezeichnet. Er wusste, dass meine Mutter damals auf der Flucht sein Kind erwartete. Sie waren verlobt, sie hatten sich verloren. Er hatte keine anderen Kinder. Auch er trug eine Leerstelle im Leben, genau wie ich. Zwei Jahre später starb er mit 85. Doch ich weiß nun, dass ich Familie in Griechenland habe. Eine richtig gute große Familie.«
Die Kindheit prägt die Biografie. Das Gefühl, unerwünscht zu sein, gleicht einer offenen Wunde. Man kann Pflaster darauf kleben und hoffen, dass man diesen Marker mit der Zeit vergisst – oder die Wunde behandeln.
Jack-Peter Kurbjuweit hat über seine Suche nach den Wurzeln ein Buch geschrieben: »Das ist doch gar nicht dein Vater! Eine europäische Spurensuche« (BoD)
»Mein Vater Kees war erst 20, und er war verliebt«
Ton Maas, geboren 1956. Mutter: deutsche Zwangsarbeiterin, Vater: Zwangsarbeiter aus den Niederlanden
»Ein typischer Mutter-Satz: ›Über den Krieg sprechen? Nein, das begreifst du nicht‹. Wenn Dokus über 1933 bis 1945 liefen, stellte sie den Fernseher aus. Sie fühlte sich schuldig. Weil sie deutsch war. Weil ihr Bruder Fallschirmjäger war und mittendrin im Geschehen, auch als Rotterdam zerbombt wurde. Ich selbst war zu gehemmt, um Fragen zu stellen. Da war eine starke Bremse: Mutter will das nicht. 2015 starb mein Vater mit 92 Jahren. Im Nachlass fanden wir in einer Zigarrenkiste eng geschriebene Tagebücher plus zwei Kartons mit Briefen und Fotos aus seiner Zeit als Zwangsarbeiter von März 1943 bis April 1945 in Berlin. Was für ein Schatz für meine Schwester Erika und mich. Erst wollten wir die Dokumente in ein Archiv bringen, doch dort würden sie nur eine Nummer bekommen und verstauben. Also sortierte und schrieb ich die Erinnerungen meines Vaters lieber auf.
Die eng beschriebenen Tagebücher von Kees Maas aus den Kriegszeiten in Berlin, die über 80 Jahre lang erhalten blieben
›In Berlin hatte ich die schönste Zeit meines Lebens‹, das war so ein Satz meines Vaters, den ich nie verstanden hatte. Wie bitte? Du als Zwangsarbeiter, zu einer Zeit der Sirenen, der Bombenhagel, der Zerstörung? Doch mein Vater Kees war erst 20, und er war verliebt. Unsere Mutter Martha war ebenfalls zum ›Arbeitseinsatz‹ in Berlin.
Dresden stand in Flammen
Beide mussten für Telefunken arbeiten, um Röhren für Funkgeräte der Wehrmacht herzustellen. Sie hatten sich ineinander verguckt, trotz der beiden großen Tabus für Zwangsarbeiter: Politik und Liebe. Wohl wegen dieser verbotenen Liebe wurde Martha zur Strafe nach Reichenbach (heute Dzierżoniów) versetzt. Sie lief weg, zurück nach Berlin, und musste in einer neuen Telefunken-Produktionshalle 36 Meter unter der Erde in einer unfertigen U-Bahn-Linie arbeiten, bevor sie zurück nach Reichenbach versetzt wurde. Durch Briefe hielt der Kontakt zu Kees. Mein Vater schrieb über Kinofilme, Konzerte, Sportveranstaltungen. Das klang in Teilen wie eine Klassenfahrt. Doch so war er eben, er suchte immer das Positive. Er war 40-mal im Kino in zwei Jahren. Berlin hatte damals etwa 400 Kinos, die NSDAP tat alles, um Normalität zu suggerieren, damit man die Bedrohung nicht ahnte. Am 20. Januar 1945 flüchteten alle Bewohner aus Alt-Hammer, Marthas Geburtsdorf, mit Pferden und Wagen nach Westen. Martha gelang es, sich diesen Flüchtlingsgruppen anzuschließen. Am 13. Februar 1945 stieg sie mit ihrer Familie in einen Zug nach Dresden, der dort jedoch nicht einfahren konnte, da die Stadt in Flammen stand. Sie sah den Bombenhagel aus der Ferne – welch ein Glück für sie.
Erst Vorwürfe, dann das große Schweigen
Letztlich landete sie in Thüringen, in Ichstedt am Kyffhäuser. Martha an Kees: ›Es gibt hier einen Berg mit einem großen Denkmal, das kannst Du nicht verfehlen.‹ Im Juni 1945 hätte mein Vater per Zug nach Eindhoven heimfahren können, wollte aber zu Martha. Kees sprang zwischen Weimar und Erfurt vom Zug ab, ging zu Fuß, fand Martha. Beide halfen auf einem Bauernhof und heirateten am 8. September 1945 in Ichstedt.
1946 kam meine Schwester Erika zur Welt. Als sie erst Ende 1947 zusammen in die neue Heimat reisten, war die Familie in den Niederlanden wenig begeistert über diese deutsche Ehefrau. Für alle Zwangsarbeiter, die überlebt hatten, war die Situation nach der Heimkehr nicht einfach. ›Warum habt ihr das gemacht? Warum habt ihr die Deutschen unterstützt?‹ Solche Vorwürfe mussten sie sich anhören. Dann fing das große Schweigen an. Wenn man heute an den Zweiten Weltkrieg denkt: Welche Bilder kommen hoch? Holocaust, Verfolgung, Bomben – aber die Zwangsarbeiter werden nur selten gesehen. Obwohl sie millionenfach malochten. Allein aus den Niederlanden wurden 600.000 junge Männer eingezogen, über deren Schicksale man wenig weiß.« Aus dem Nachlass schrieb Ton Maas das Buch »Liefs uit Berlijn« (»Liebe Grüße aus Berlin«) und sucht dafür gerade einen deutschen Verlag, da die Liebe seiner Eltern hier begann.
Verliebt inmitten von Trümmern: Das Buchcover zeigt Martha und Kees Maas im zerbombten Berlin 1945
»Desch isch a Franzele«
Meggie Beck, geboren 1947 in Münsingen. Mutter: deutsche Kriegswitwe, Vater: französischer Gendarm
»Die französische Sprache klingt für mich nach Heimat. Ich liebe das Land, die Kultur, die Mode, einfach alles. Pagenschnitt trage ich bis heute. Neulich nahm ich mit meinem Verein ›Coeurs sans Frontières – Herzen ohne Grenzen‹ am Entzünden der Flamme am Arc de Triomphe teil, mit Flaggen und Singen der Marseillaise. ›Dir Bastard von der Alb wird diese Ehre zuteil‹, dachte ich stolz.
Mein Leben lang habe ich nach meinen Wurzeln gesucht. Mit 70 Jahren wurde ich fündig. ›Desch isch a Franzele‹, hörte ich als Kind manchmal und fragte irgendwann meine neun Jahre ältere Schwester, wann genau ›unser Vater‹ in Russland gefallen sei. Es war 1943 – ich bin Jahrgang 1947. Also konnte ›unser Vater‹ nicht mein Vater sein. Von meiner Mutter kamen keine Antworten. Wir lebten in Münsingen auf der Schwäbischen Alb. Dort gab es ein deutsches und ein französisches Militärlager, Franzosen gehörten zum Stadtbild. Bewusst provokant sagte ich einmal, dass ich die französischen Uniformen viel schöner fände als die der Deutschen, was meine Mutter unwirsch abtat.
Nach einer Brustkrebserkrankung meiner Mutter zogen wir 1960 ins Ruhrgebiet, dort lebte Verwandtschaft. Für mich als Landkind war das Ruhrgebiet eine unschöne Erfahrung. Die Zechen arbeiteten noch, die Luft war geschwängert mit Ruß und üblen Gerüchen.
Meine Mutter starb 1962, zwei Wochen nach meinem 15. Geburtstag. Ich konnte ihr keine Fragen mehr stellen. Im Keller fand ich ihre ›Notfalltasche‹ mit Dokumenten und Fotos, ein Relikt aus Bombennächten.
»Sie sehen aus wie Ihr Vater«, sagte die alte Dame
Bei einem Besuch in Münsingen zeigte ich einer Freundin 2013 das Haus, in dem ich als Kind gewohnt hatte. Eine Passantin sprach uns an. Zufällig war sie eine Verwandte der früheren Vermieterin und vermittelte ein Treffen mit dieser alten Dame, 96 Jahre alt und noch hell im Kopf: ›Sie sehen aus wie Ihr Vater‹, sagte sie zur Begrüßung.
Der Vater von Meggie Beck. Ein Foto, das sie heimlich abfotografiert hatte
Ein bewegender Moment. Noch nie hatte jemand meinen Vater in mir gesehen. Sie erinnerte sich an einen freundlichen Menschen, der immer liebevoll zu mir gewesen sei. Die ersten 15 Monate meines Lebens war ich also von französischer Sprache und Zuneigung umgeben, bis mein Vater zurück nach Frankreich beordert wurde. Die alte Dame hatte sogar einen Brief der französischen Ehefrau meines Vaters aufbewahrt. Von 1949, beschriftet mit Name und Adresse. So ein Zufall, so ein Glück.
Ich fuhr zur Adresse in die französischen Alpen, doch niemand im Rathaus oder in der Gendarmerie konnte helfen. 2015 hörte ich an der Uni Köln einen Vortrag über Besatzungskinder und lernte die Professorin Elke Kleinau kennen. Sie empfahl mir den Verein ›Coeurs sans Frontières – Herzen ohne Grenzen‹: französische und deutsche Nachkommen, die diesseits und jenseits des Rheins nach ihren Eltern suchen. Ich wurde Mitglied, ein Gruppenfoto von 1947 kam in die Suchliste der Website. Es zeigt die Erstkommunion meiner Schwester: meine sichtbar schwangere Mutter, mein Vater mit seiner französischen Frau und deren damals 17-jährige Tochter. Eine seltsame Szenerie.
Leider kam ich zu spät
2017 meldete sich eine Frau, sie hatte die Frau meines Vaters auf dem Foto erkannt. Ich bekam Adresse und Namen meiner Halbschwester, nahm vorsichtig Kontakt zu Georgette auf und besuchte sie in der Bourgogne. Sie begegnete mir freundlich, doch Georgette litt leider an Demenz und hatte Erinnerungslücken. Doch ich habe Andrés Grab besucht und ein Bild von ihm abfotografiert. Es steht nun neben dem Foto meiner Mutter. Sein verschmitzter Gesichtsausdruck gefällt mir gut. Meine Tochter konnte die Suche nicht nachvollziehen: ›Ob dein Vater nun aus Usbekistan oder Frankreich stammt, welche Rolle spielt das‹. Ich aber wollte meine Wurzeln, meine Geschichte kennen. Inzwischen sehe ich den Verein Coeurs sans Frontières als meine Wahlverwandtschaft an und bin glücklich damit. Wir helfen anderen ›ungewollten Kindern‹ mit Recherche, Zuspruch und Trost bei der oft mühsamen Suche. Auch 80 Jahre nach Kriegsende suchen immer noch viele.«