Von Monika Dittombée
HOMER DES NORDENS
Snorri Sturluson gilt als größter Erzähler der Wikinger-Sagas. Er lebte auf Island und starb unter dramatischen Umständen
„Nicht schlagen“, sagte Snorri. „Schlag du“, befahl Símon. „Nicht schlagen“, sagte Snorri. Da versetzte Árni Beisk ihm den Todesstoß. So geschah es in der Nacht zum 23. September 1241. Snorri Sturluson, Islands berühmtester Mann jener Zeit, wurde im Keller seines Anwesens in Reykholt getötet. Sein Mörder Árni Beisk war ein Handlanger aus einer Meute von 70 Männern, die vermutlich im Auftrag König Hákons von Norwegen nachts im diesigen Tal von Reykholt eingefallen waren, die große Schutzmauer überwanden und in das weitläufige Anwesen eindrangen. Die Mörder mussten mehrere Häuser, Kammern und unterirdische Gänge durchkämmen, bis sie im Keller des Hauptgebäudes ihr Opfer aufspürten. Snorri wehrte sich nicht. Keine Wache stand bereit, obwohl er geahnt haben muss, dass die Häscher kommen werden. Apathisch sei er gewesen, erschöpft von der Trauer um seine Frau Hallveig, die zwei Monate zuvor gestorben war.
Dass wir über den genauen Tathergang eines Mordes auf einer abgelegenen, sturmumtosten Insel im hohen Norden vor knapp 800 Jahren so gut Bescheid wissen, verdanken wir den isländischen Sagas, in der Volkssprache verfasste Prosa, die auf mündlich erzählten Geschichten basierten. Viele Autoren der Sagas blieben anonym, doch Snorri Sturluson war der Meister unter ihnen, weshalb er der „Homer des Nordens“ genannt wird. Tatsächlich könnten Drehbuchautoren von heute in den mittelalterlichen Sagas reichlich Inspiration finden, denn es geht wenig zimperlich um die ganz großen Themen: um Schurken und Helden, Mord und Totschlag, Ehre und Rache, Liebe und Hass, Sünde und Sühne.
Jedes Tal, jeder Gletscher: alles ist mit den Sagas verbunden
„Als hätte Quentin Tarantino im 13. Jahrhundert gelebt und geschrieben“, findet der deutsch-isländische Schriftsteller Kristof Magnusson. Zum typischen Saga-Stil gehören die unverblümte Ausdrucksweise der Charaktere, ständige Zeitsprünge und ein ausgeprägtes Gespür für Groteskes und schwarzen Humor. So findet etwa in der Saga von „Grettir dem Starken“ der von zwei Speeren tödlich getroffene Held Atli noch die Zeit, diese aus der Brust wieder herauszuziehen und kopfschüttelnd zu betrachten: „Jetzt sind wohl die breiten Speere in Mode.“ Erst nach diesem lakonischen Kommentar fällt er um und stirbt. Seit Jahrhunderten sind die Saga- Helden den Isländern vertraut wie Familienmitglieder. Bars und Kneipen heißen nach den Figuren der Sagas, die sich tief im kulturellen Gedächtnis verankert haben. Während wir das Nibelungenlied oder die mittelhochdeutschen Texte von Hartmann von Aue kaum entziffern können, sind die Isländer problemlos in der Lage, ihre Sagas im Original zu lesen, da sich die Sprache kaum verändert hat.
Außerdem existieren die markanten Schauplätze auf Island immer noch. Jeder Fjord, jedes Tal, jeder Gletscher – alles ist mit den Sagas verbunden. Der Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness beschrieb das einmal so: „Man bewegt sich immer im Saga-Raum, das ganze Land bebt von der literarischen Überlieferung.“ Natürlich wird auch über Snorri Sturluson ausführlich berichtet, etwa in der „Sturlunga saga“. Damit schaffte dieser Mann das Kunststück, nicht nur etliche Sagas zu verfassen, sondern – quasi in einer Doppelrolle – selbst zum Saga-Helden aufzusteigen. Ihm zu Ehren wird seine Lebenszeit als „Sturlungenzeit“ bezeichnet, die in das blutigste Jahrhundert Islands fällt, geprägt von Machtkämpfen, Überfällen, Blutrache und Morden. Snorri Sturluson führte in diesen bewegten Zeiten ein eher vornehmes Leben. Im Winter 1178/79 wurde er in eine der mächtigsten Familien Islands hineingeboren. Mit drei Jahren kam Snorri nach isländischem Brauch in die Obhut seines Ziehvaters Jón Loftsson auf den Hof Oddi in Rangárvellir, der als Zentrum isländischer Bildung gilt. Hier lernte Snorri Sturluson Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik, Rhetorik und Dialektik. Er las biblische Texte, zeitgenössische mittelalterliche Literatur, und vermutlich wurde er auch in Latein unterrichtet. 1199 wurde seine Ehe mit Herdis Bersesdatter arrangiert, die Tochter eines mächtigen Landbesitzers. Das Paar hatte mehrere Kinder. Snorri soll zusätzlich etliche andere Geliebte und uneheliche Kinder gehabt haben. 1206 ging die Ehe auseinander. Seine Biografen berichten, dass Snorri Sturluson nicht als schöner Mensch bezeichnet werden konnte, auch von außergewöhnlichem Mut war keine Rede, ein Mann des Schwertes sei er nie gewesen. Dafür war er ein umsichtiger Diplomat und glänzender Dichter.
Christliche Motive vermengt mit germanischen Mythen
Mit der „Edda“ hinterließ er der Nachwelt ein Prunkstück mittelalterlicher Literatur. Es ist ein Handbuch der Poesie, das den isländischen Dichtern, den „Skalden“, als Lehrbuch dienen sollte. Klar gegliedert, systematisch aufgebaut und randvoll mit Heldengedichten, Götterliedern, Geschichten und Anekdoten, gilt die „Snorra-Edda“ bis heute als Hauptquelle für nordgermanische Mythendichtungen. Für die Bedeutung des Wortes „Edda“ existieren mehrere Erklärungen. Es könnte die altisländische „Urgroßmutter“ im Sinne einer „Urmutter der Poesie“ gemeint sein oder sich auch einfach um eine Ableitung des altisländischen Wortes óðr handeln, das so viel wie „Poesie“ bedeutet. Im Prolog seiner Edda verbindet er mit verblüffender Leichtigkeit Einheimisches mit Fremdem, Neues mit Altem, christliche Motive mit germanischen Mythen. Er schildert die Erschaffung der Welt aus christlicher Sicht und greift auf das Alte Testament zurück. Es geht um die Sintflut, die verschiedene Religionen der Völker und Theorien der Natur. Mithilfe der Trojanerfabel verschmilzt er antike Geschichte mit der skandinavischen Historie. Bei ihm beginnt der Stammbaum der nordischen Götter in Troja. Von dort aus begibt sich der menschenähnliche Gott Odin auf eine Reise in den Norden:
„Odin besaß wie seine Frau die Sehergabe, und aus seinen Visionen erfuhr er, dass sein Name oben in der Nordhälfte der Welt bekannt sein würde und dass er darüber hinaus von allen Königen geehrt würde.“
Arche Noah neben Odin? Dass Snorri Sturluson christliche Religion und heidnische Mythen geschmeidig vermengt, lässt sich durch die junge Geschichte seines Landes erklären. Auf Druck des norwegischen Königs nahm Island im Jahr 1000 durch Mehrheitsbeschluss auf dem Althing das Christentum als Staatsreligion an, doch eher in der laxen Variante: Die heidnischen Götter durften nämlich im Privaten durchaus weiter verehrt werden, ganz ohne Strafe. Biblische Texte und Bücher auf Latein kamen für den religiösen Gebrauch auf die Insel. Etwa 100 Jahre später begann man, sich auf die eigene Vergangenheit zu besinnen und niederzuschreiben, was vorher nur mündlich von Generation zu Generation weitergetragen wurde. Je nach Fantasie des Erzählers wurden diese tatsächlichen Ereignisse verschönert, dramatisiert, und natürlich wurde fleißig hinzugedichtet. So entstand die besondere Form der Sagas, die identitätsstiftend für ein junges Land waren, das sich seiner Existenz noch versichern musste.
Egil, ein Finsterling der Literatur
Eine der wohl bekanntesten Isländer-Sagas ist die „Egils saga“ über das Leben von Egill Skallagrímsson (910–990), eine historisch verbürgte Figur. Kein strahlender Held, eher ein Finsterling der Literatur, der an Raubzügen in ganz Skandinavien und im Baltikum teilnahm. Ein Kämpfer, Poet und Säufer, unberechenbar, aufbrausend, melancholisch. Schon als Siebenjähriger erschlägt er aus Wut über ein verlorenes Ballspiel den Nachbarjungen.
„Danach spricht er: ,Das meint meine Mutter, man müsste mir kaufen, Schiff und schöne Ruder, Fahren sollt ich mit Wikingern: Droben stehen am Steven, Steuern teuren Knörr, Halten so zum Hafen Töten Mann auf Mann.‘“
Als Autor der „Egils saga“ gilt Snorri Sturluson, einmal wegen der sprachlichen Brillanz, zudem war er mütterlicherseits mit Egil verwandt. Egil Skallagrímsson verkörpert bis heute das Bild des ungestümen Wikingers aus den Anfangsjahren der Besiedelung, die saga-haft begann. Im Jahr 870 landen die ersten Siedler an, Pioniere von den Färöern, aus Irland und Skandinavien. In Scharen kommen dagegen die norwegischen Freibauern, die in offenen Schiffen die stürmische See überqueren. Mit an Bord: Frauen, Kinder, Pferde, Schafe, Rinder, Ziegen und Hühner, Vorräte und häusliche Geräte. Die neue Heimat „Eisland“ muss den Bewohnern des Nordens wie ein Dorado in der frostigen Variante erschienen sein. Sie finden paradiesische Zustände: menschenleere, weite Grasgebiete, reiche Fischgründe, heiße Quellen, genügend Treibholz. Island wurde ein Land ohne Adel, Burgen oder Städte, ein Land der Bauernhöfe. Etwa 80000 Einwohner lebten von Fischfang und Viehzucht. Nur die Goden, die regionalen Herrscher, hatten eine Vormachtstellung. Sie trafen sich auf dem Althing, der alljährlichen Versammlung freier Männer, die im Juni über zwei Wochen hinweg stattfand. Einzige personale Institution war das Amt des Gesetzessprechers, der für drei Jahre vom Althing gewählt wurde. Durch seine erste Hochzeit hatte Snorri Sturluson genug Einfluss und wurde als wohlhabender Landbesitzer ebenfalls ein Gode. Mehrfach hatte er das Amt des Gesetzessprechers inne, einmal von 1215–18 und dreimal zwischen 1222 und 1231. Auf dem Althing wurde zwar Recht gesprochen, allerdings besaß das Althing keine Exekutivgewalt. Jeder musste sein Recht in der Praxis danach selbst durchsetzen, das erklärt die blutigen Familienfehden, Totschläge, Ächtungen und Zweikämpfe.
Seit der Trennung von seiner ersten Frau lebte Snorri auf einem Anwesen in Reykholt, das er repräsentativ wie einen europäischen Fürstenhof gestaltete inklusive eines Swimmingpools, gespeist von den heißen Quellen rund um Reykholt. In der „Snorralaug“, die man heute noch besuchen kann, soll Snorri sich gern mit seinen betuchten Gästen erholt haben. Dass Snorri international vernetzt war, zeigen die ausgegrabenen Hinterlassenschaften, die aus England, Deutschland und Frankreich stammen. In zweiter Ehe heiratete er 1224 Hallveig Ormsdóttir, damals die reichste Frau Islands, mit der ihn eine innige Liebe verband. Beide lebten gemeinsam in Reykholt.
Ein literarisches Denkmal für Norwegen
Dass Snorri Sturluson Wert auf Selbstdarstellung legte, zeigen auch Anekdoten wie jene, dass er zum Althing mit 70 Mann angeritten kam, ohne dass Gefahr gedroht hätte. Zweimal weilte Snorri am norwegischen Königshof, jeweils mehrere Jahre. Diese Aufenthalte müssen ihn sehr beeindruckt haben. Dem norwegischen König zuliebe dichtete er die „Heimskringla“ („Weltkreis“), eine opulent erzählte Geschichtssammlung der norwegischen Königsgeschichte von den mythischen Ursprüngen bis 1177. Am norwegischen Königshof freundete er sich mit Herzog Jarl Skúli an, einem mächtigen Mann am Hof. Doch die enge Beziehung zum Königshof bedeutete auch Gefahr. Snorri geriet mehr und mehr in den Brennpunkt zwischen isländischem Unabhängigkeitsbeharren und norwegischen Annexionsplänen. Lange konnte er Hákon glauben machen, dass er sich in Island für die größere Einflussnahme Norwegens einsetzen würde, obwohl er sich in Wahrheit nur um die eigene Machtposition innerhalb Islands kümmerte. Sein Freund Skúli fiel in Ungnade – er hatte sich selbst zum König von Norwegen erklärt – und wurde 1240 auf Befehl Hákons getötet. 1241, nur zwei Jahre nach seiner Abreise aus Norwegen, wurde auch Snorri erschlagen. Man kann es als bittere Ironie ansehen, dass der Dichter der norwegischen Königsdynastie mit der „Heimskringla“ ein prunkvolles literarisches Denkmal errichtet hatte und dennoch im Auftrag des norwegischen Königs gemetzelt wurde. Tarantino würde so etwas gefallen. ■
Über die Edda
„Allen Edeln gebiet ich Andacht, Hohen und Niedern von Heimdalls Geschlecht; Ich will Walvaters Wirken künden, Die ältesten Sagen, der ich mich entsinne. Riesen acht ich die Urgebornen, Die mich vor Zeiten erzogen haben. Neun Welten kenn ich, neun Aeste weiß ich An dem starken Stamm im Staub der Erde.“
So beginnt die „Ältere Edda“, eine isländische Sagensammlung voller heidnischer Götter, mächtiger Herrscher und Helden. Erstmals aufgeschrieben wurden die Geschichten wohl im 13. Jh. Als bekanntester Chronist der Legenden gilt heute Snorri Sturluson – nach ihm ist die „Snorra-Edda“ benannt (auch: „Jüngere Edda“). Snorri schrieb sie ab 1220 für die Skalden, die Dichter. Seine Edda beginnt so: „König Gylfi beherschte das Land (...). Von ihm wird gesagt, daß er einer fahrenden Frau zum Lohn der Ergetzung durch ihren Gesang ein Pflugland in seinem Reiche gab, so groß als vier Ochsen pflügen könnten Tag und Nacht (...); ihr Name war Gefion. Sie nahm aus Jötunheim vier Ochsen, die sie mit einem Jötunen erzeugt hatte, und spannte sie vor den Pflug. Da ging der Pflug so mächtig und tief, daß sich das Land löste, und die Ochsen es westwärts ins Meer zogen bis sie in einem Sunde still stehen blieben.“
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