AB IN DIE WILDNIS

Eine Woche lang Outdoor-Erlebnisse in Schwedens Natur erleben - gemeinsam in der Gruppe schaffen das auch sportlich weniger begabte Menschen

„Seltsam, irgendwas ist völlig abgefahren“, Fotografin Valeska sieht sich um. Wir stehen am Straßenrand an einem See im Abendlicht. Ein altes Ruderboot dümpelt am Steg, umrahmt von den Umrissen dunkelgrüner Wälder. Keine Autos, keine Menschen. Und irgendwas ist anders als gerade eben, aber wir können es nicht benennen. Vielleicht liegt es an den Farben. Erst fuhren wir stundenlang durch prasselnden Regen aus tiefgrauen Wolken, dann tauchte ein heller Fleck auf, eine zaghafte Sonne kämpfte sich durch und zauberte ein milchig-rosafarbenes Licht in die schwedische Wildnis. Die Regennässe steigt als feiner Nebel über dem rötlichem Asphalt auf, eine schwarze Katze streunt wichtigtuerisch geduckt wie ein Detektiv im Straßengraben. Ich muss an schwedische Krimis denken. Und an vorhin, als ein lilafarbener Volvo-Oldtimer mit schwarz getönten Scheiben aus dem Nirgendwo aufgetaucht war. Er zuckelte mit Tempo 20 vor uns in der Mitte der Straße. Überholen unmöglich. Wir rätselten: Ein alter Mann mit Sehschwäche? Oder werden wir gleich überfallen? Erst nach Minuten starteten wir das Überholmanöver. Beim Vorbeifahren sahen wir Hände an den schwarzen Scheiben, Beine in der Luft, hörten Bässe dröhnen. Am Steuer eine blonde junge Frau mit Pony, kerzengerade eng am Lenkrad und konzentriert, um den Volvo auf der Straße zu halten. 30 Minuten später hören wir, jetzt am See, von Ferne wieder Bässe dröhnen. Und tatsächlich: Unser lilafarbener Party-Volvo schleicht über den Hügel heran, immer noch in der Mitte der Straße, hinter sich inzwischen fünf Autos. Für schwedische Verhältnisse ist das fast schon ein Stau. Wir starren ungläubig auf die Kolonne, bevor der Lachanfall einsetzt. Diese Jugendlichen spielen Las Vegas und sind auf ihrem Trip auf dem „Strip“ unterwegs, Samstagabend in der schwedischen Einsamkeit. Nur die schwarze Katze schaut ihnen verdattert hinterher. Und wir.

IM KÜHLSCHRANK STEHT NOCH DOSENBIER

Noch wenige Kilometer bis zum Ziel, der ehemaligen Dorfschule Stömnegarden in Värmland, wo wir uns zu einer „Campwoche“ angemeldet haben. Das bedeutet: jeden Tag Ausflüge in die Wildnis und Gemeinschaftsabende im Schulgebäude. Meine innere Krimi-Stimmung löst sich auf, neue Eindrücke schieben sich ins Bewusstsein, freundliche Gesichter, Kerzenschein, die herrlichen Sätze „Es ist noch warmes Essen übrig“ und „Die Sauna ist schon an“. Und im Kühlschrank steht Dosenbier. Vor dem Kühlschrank hat sich eine Traube Menschen in Hochstimmung versammelt. Überall Gekicher und die Frage, wer mit wem in welche Sauna geht? Dabei haben sich alle erst vor ein paar Stunden kennengelernt. Wir sind 18 Leute. Zwei Paare, Einzelreisende, Mutter mit Tochter, etwa gleich viele Männer und Frauen von jung bis mittelalt. Jeden Tag kann man zwischen zwei Touren wählen, die von Guides begleitet werden.

EINSTECHEN. WEGSCHIEBEN. DAS HAT WAS MEDITATIVES

Zum ersten Kanu-Ausflug kommen alle mit. Ein Fußmarsch bergauf führt zu einem betörend einsamen See, dem Stömnesjön, den man wegen der vielen Biegungen, Ausbuchtungen und Inseln gar nicht überblicken kann. Freya ist eine der Guides und von zupackender Art. Sie weist ein: „Vorn ist der Antrieb. Paddel einstechen, Wasser nach hinten wegschieben. Hinten wird gesteuert, dafür nur ein C in den See malen.“ Klingt einfach, trotzdem bin ich beruhigt, dass Guide Benjamin hinter mir im Kanu steuern will. Wir paddeln raus und ich bin glücklich über die immer gleiche, simple Bewegung. Einstechen, wegschieben, immer wieder, das hat was Meditatives. Gerade als meine Gedanken angenehm sinnlos werden, kommt der Regen. So was von aus dem Nichts. Eben noch Sonne, jetzt drischt ein garstiger, grauer Schauer herab, der alles durchnässt. Wäre ich allein, würde ich mich umgehend am Ufer unter den Bäumen verdrücken, doch hier scheint niemand beeindruckt. Schon gar nicht Benjamin, der munter weiterplaudert. Ich wische mir das Wasser aus den Augenbrauen. „In einer Minute hört der Regen auf“, sagt Benjamin. Tut er nicht.

SONNE BRICHT DURCH, SCHWEDEN LEUCHTET

Am Rande meines Blickfelds sehe ich einen dicken Mann mit grauem Bartzipfel, der bis zum Bauch wippt, am Ufer joggen. Ein Troll? Als ich noch einmal hinsehe, ist er verschwunden. Sicher nur eine Sinnestäuschung, regenbedingt. Endlich erreichen wir einen Anlegeplatz mit offener Holzhütte. Dann lodert ein Feuer, irgendwer macht heißes Wasser und reicht Kaffee. Wieder setzt sich in meinem Kopf rasant alles neu zusammen, von schrecklich auf schön. Es werden Pullis getauscht und Hintern am Feuer getrocknet, bis es qualmt. Merkwürdige Sätze fallen: „Ich trage noch meine Unterwäsche unter deiner Hose.“ Alle fröhlich. Wie schnell man sich als Team fühlt, allein durch gemeinsame einfache Tätigkeiten: Schwimmwesten tauschen, zusammen ein Kanu tragen, sich mit einer neuen Person ins Kanu setzen oder eben einen Regenguss überstehen. Die Schauer hören auf, die Sonne bricht durch. Wir paddeln zurück, Schweden leuchtet.

TÄUSCHT DAS LAND WIEDER ETWAS VOR?

Beim Abendessen frage ich vorsichtig, ob noch jemand den zauseligen, joggenden Waldschrat bemerkt hat? Tatsächlich! Eva sah ihn auch: „Aber das war kein Jogger. Der ist vor irgendetwas weggelaufen.“ Nachts träume ich von der „Black Lodge“, wo in der Serie „Twin Peaks“ das Böse wohnt, mitten im Wald. Und wenn Värmland von etwas massenhaft zu bieten hat, dann ist das ja wohl Wald. Wobei die Landschaft bei Tageslicht lieblich und harmlos wirkt, wie ich auf der Fahrradtour am nächsten Morgen feststelle. Das Grün der lichten Wälder ergibt zusammen mit dem Tiefblau der Seen eine klare, harmonische Farbkombination, die nichts als Frieden ausstrahlt. Viele der frei stehenden Häuser am Ufer sind im schönsten Schwedenrot gestrichen. Die pure Idylle, wenn nur die Hügel nicht wären. Auf unserer 58 Kilometer langen Radetappe durch den hübschen Ort Klässbol bis zum Vänern-See – mit einer Küstenlinie von 2000 Kilometern der drittgrößte See Europas – liegen ordentliche Steigungen. Sanfte Hügel wachsen sich zum Gebirgspass aus. Täuscht das Land wieder etwas vor? Ich befinde mich im Kampfmodus. Muss die Atmung kontrollieren, den Rhythmus finden, das eigene Tempo. Zur Einsicht kommen, dass es okay für mich sein muss, die Letzte zu sein, wenn das eben mein Tempo ist. Irgendwann funktioniert die Atmung, doch dann zwickt das Knie, danach die Schulter. Es regnet. Jacke aus, Jacke an, trinken. Heimlich die anderen beobachten, ob die vielleicht auch ein klein wenig keuchen? Tun sie, aber zugeben werden sie es erst Tage später. Die großen Lügen dieser Woche stehen für mich schon fest: „Da vorn wird’s schon hell.“ „Nicht mehr weit bis zum Café.“ „In einer Minute hört es auf.“ „Ich sehe schon die Brücke.“ Geschenkt. Anstrengung macht stark, Notlügen helfen wirklich.

VIOLETTE MOOSE LOCKEN WIE KISSEN

Jedem Anstieg folgt ein Abhang. Runtersausen im Triumph, alles fliegt vorbei, die Wälder, die Seen, Grün und Blau vermengen sich mit Tupfern von roten Häusern, ein Rausch. „Diese Landschaft packt dich nicht sofort, sondern allmählich, dann aber umso intensiver“, sagt Nicole. Normalerweise ist mir jede Art von Rudelbildung unheimlich. Hier ist es anders. Ich empfinde alberne, glühende Zuneigung für jeden. In den Zeiten zwischen den Touren spielen wir Tischtennis, Dart oder Kicker, ständig wird gekichert, geprustet, gelacht. Ohne diese gute Laune hätte ich viel mehr gejammert. Etwa bei der „Gängene Tour“, einer Wanderung auf abenteuerlichen Pfaden durch die Wildnis. Ein orangefarbiger Strich an den Bäumen markiert die Trampelpfade, die über glitschige, moosbewachsene Steine führen. Um uns herum sieht es auf einmal zwischen schulterhohen Farnen aus wie im südamerikanischen Dschungel, dann wieder typisch skandinavisch mit hellgrüner Rentierflechte, Himbeeren und Blaubeeren. Oder wie im Märchenland: mit Feenhaar an den Bäumen und violetten Moosen, verlockend wie weiche Kissen. Zwischendurch öffnen sich berückende Ausblicke auf die Seen Holmtjärn und Altjärn.

Doch da ist wieder diese unheimliche Stille. Keine Geräusche, kein Vogelgezwitscher, kein Wind: als hätte die Natur die Luft angehalten. Klar, in einer leeren Kirche kann es auch still sein. Doch nichts lässt sich mit dem Gefühl vergleichen, mitten am Tag in einem Wald eine derart erschlagende Stille zu hören – und als Gänsehaut zu spüren.

WEICHGESPÜLT IM KAJAK

Wie sehr ich mich an die Stille gewöhnt habe, merke ich bei einem Ausflug ins Städtchen Arvika. Ein beschaulicher Ort mit charmanten Cafés und Boutiquen, die ich sonst intensiv durchforsten würde. Diesmal wird es mir nach zwei Stunden in Arvika, 14 000 Einwohner, zu hektisch. Ich will zurück in die Wildnis, mich bewegen, Muskeln spüren, atmen. Endlich auf Seekajak-Tour gehen. Zu meinem Schrecken sind schon andere Leute an der Anlegestelle am See Stora Gla. Es sind nur drei, doch sie irritieren mich zutiefst. Sonst waren wir doch immer allein! Erst draußen auf dem See bin ich versöhnt, fühle ich mich weich gespült und schwerelos im Kajak. Noch besser als im Kanu, weil es wendiger ist und man nah an der Wasserlinie sitzt. Die Rückenschmerzen, die mich vor der Reise gepiesackt hatten, sie sind weg. Ich empfinde wohliges Ganzkörper-Gummigefühl. Auch die anderen sehen aus wie nach einem Wellness- Urlaub: die Gesichter sind weich, die Haut frisch durchblutet, die Augen strahlend, die Haltung lässiger. Offenbar reicht das Draußensein, um sich rasant zu verjüngen. Am letzten Abend steigt ein riesengroßer Mondball hinter den Wäldern auf, taucht die Landschaft in bläulich-diffuses Licht. Ein pelziger Troll tanzt Tango mit einer grünhaarigen Elfe auf einer Moos-Wolke über dem See. Nein, nicht wirklich. Aber es würde gut aussehen. Diese unergründliche Landschaft zwingt meine Fantasie dazu, eigene Bilder einzusetzen. Die wahren Abenteuer geschehen im Kopf. Und ja, da war ein pelziger Troll, selbstverständlich!

REISEPLANER

Der Veranstalter Rucksack Reisen bietet Winter- und Sommerreisen in Europa an. Schwerpunktland ist Schweden. Die beschriebene Tour entspricht der Reise „Campwoche im Aktivcenter Stömnegarden“ mit dem festen Standort in einem ehemaligen Schulhaus von 1900 nahe des Naturreservats Glaskogen. Preisbeispiel: 7 Nächte mit Halbpension, inkl. aller Touren und Ausrüstung, ab 799 Euro im Mehrbettzimmer. Einzelzimmer und Bus-Anreise aus Deutschland können gegen Aufpreis gebucht werden. Rucksack Reisen, Tel. 02 51/87 18 80, www.rucksack-reisen.de

ÜBERNACHTEN

Selma Spa. Freundliches Haus in ruhiger Lage auf einer Anhöhe mit Blick über den See Fryken. Großzügiger Spa-Bereich mit vier Pools und Gym. Das Hotel liegt im idyllischen Örtchen Sunne. Ein sommerlicher Anziehungspunkt für Familien ist der Wasserpark „Sunne Sommarland“. Sunne, Sundsbergsvägen 3, Tel. 05 65/1 66 00, www.selmaspa.se.

Hennickehammars Herrgård. Herrenhaus aus dem 17. Jahrhundert nahe Filipstad, herrlich gelegen im Wald am See Hemtjärn. Einige der Suiten haben sogar Whirlpool. Filipstad, Hennickehammar 3, Tel. 05 90/60 85 00, www.hennickehammar.se.

Guesthouse Eleven. Nahe Arvika am See Glaskogen liegt dieses hübsche und familiäre B&B in einem ehemaligen Schulgebäude. Zehn gemütliche, geräumige Zimmer, auch für Familien geeignet. Arvika, Jösseforsvägen 34, Tel. 05 70/ 21 66 6, www.elevenarvika.se.

GENIESSEN Värmskogs Café. Wie gemalt liegt das schmucke Holzhäuschen direkt am tiefblauen Värmeln-See. In den Sommermonaten bilden sich lange Schlangen vor der Eingangstür. Besonders begehrt: die Plätze auf der Seeterrasse. Der Renner sind die gigantischen Krabbenbrötchen mit so viel Belag, dass man das Brötchen darunter kaum entdecken kann. Die „LYX-räksmörgås“ gibt es ab 11,50 Euro, sie reichen locker als Hauptmahlzeit Värmskog, Liljenäs Broviksvägen 3, www.varmskogscafe.se

Nordells Bageri und Konditori. Ohne Probleme könnte man in diesem nostalgischen Kaffeehaus in Arvika Stunden verbringen, um sich einmal durch die Auslage zu futtern. Unbedingt die Zimtschnecken probieren und die Prinsesstårta (Prinzessinnentorte), umhüllt von einem Mantel aus giftgrünem Marzipan. Auch Sandwiches oder Krabbenbrötchen können geordert werden. Arvika, Östra Torggatan 4, www.nordellskonditori.se

Värdshuset Tvällen. Gemütliches Wirtshaus im Wald, Wild in allen Variationen ist die Spezialität. Etwa das Elchsteak oder der Hamburger mit Elch Gunnarskog, Bogen, Tel. 05 70/77 30 24, www.tvallen.com

ERLEBEN

Mårbacka. Auf dem wunderschönen Gut der Schriftstellerin Selma Lagerlöf („Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“) reist man zurück in das ländliche Schweden des frühen 20. Jahrhunderts. Lagerlöf wurde auf Mårbacka geboren. Später musste die Familie das Anwesen verkaufen. Als reiche Frau kaufte Selma Lagerlöf den Familiensitz zurück und machte den Hof wieder zu ihrem Lebensmittelpunkt. 1940 starb sie auf Mårbacka. Eintritt 10 Euro. Östra Ämtervik, Mårbacka 42, www.marbacka.com

Värmlands Vikingacenter. Das kleine Wikingermuseum widmet sich Alltag und Handwerkskünsten der Wikinger. Im Shop gibt es Kunstgewerbe und Schmuck im altnordischen Stil. Unweit des Museums liegt der Nachbau des Wikingerschiffs „Glad av Gillberga” aus dem 11. Jahrhundert, auf dem man im Sommer auch mitfahren kann. Eintritt: 4 Euro, Nysäter, Byälvsvägen 9

EINKAUFEN

Klässbols Linneväveri. Zu gern hätte ich den ganzen Showroom dieser Leinenweberei mitgenommen: traumschöne Decken, Kissenbezüge, Tischwäsche und Handtücher! Diese Weberei stattet auch das schwedische Königshaus und das Bankett der jährlichen Nobelpreisverleihung aus. Charmant: Man kann bei der Fertigung zusehen, es wird mit alten und modernen Webmaschinen gearbeitet. Klässbol, Damastvägen 5, www.klassbols.se

Schützers Tenn- & Silversmide. Stig Schützer fertigt Unikate aus Zinn und Silber: Schalen, Serviettenringe, Armreifen und Halsketten mit seltenen Schmucksteinen. Auch wer nichts sucht, wird hier schwach und trägt ein hübsches Tütchen raus. Klässbol, Östra Hungvik, www.varmland.nu/schutzers

GUT ZU WISSEN Wer gern Antikes shoppt, schaut nach handgemalten Pappschildern mit der Aufschrift „Loppis“ am Straßenrand. Bei diesen privaten Flohmärkten öffnen die Schweden Haus, Hof und Scheunen. Mein persönlicher Renner waren silberne Kerzenständer und gusseiserne Waffeleisen, die man ins Lagerfeuer halten kann. Sehr faire Preise.

 
 

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