Immer zuviel und trotzdem nie genug

Raus aus der Heimlichkeit, rein in die digitale Öffentlichkeit. In „Recovery“-Blogs schreiben Frauen mit Essstörung über ihre Gesundung – und erhalten viel Zuspruch. Ein Online-Trend, der Mut macht

„Sich mit einem Gewicht von 180 Kilogramm verstecken zu wollen, das war einfach nur dämlich.“ Dennoch hat sie es getan. Als Bandmanagerin auf Konzerten oder Galas versteckte sich Jana Crämer auf der Toilette, um nicht gesehen zu werden. Vor beruflichen Terminen in Restaurants sorgte sie sich, ob die Stühle Armlehnen haben, zwischen die sie passen könnte. Selbst das Laufen im normalen Schritttempo fiel ihr irgendwann schwer. Jana Crämer war Binge Eaterin, bei akuten Essattacken stopfte sie soviel in ihren Körper hinein, bis es weh tat.

„Während du isst, überlegst du dir schon, was du danach essen kannst“, sagt sie. „Es ist immer zuviel und trotzdem nie genug, das ist das Fatale.“ Jana Crämer hat ihre Essstörung jahrelang verheimlicht, aß tagsüber nur Salat und nachts dann so viel, dass sie sich vor Schmerzen krümmte. „Weil ich das Denken vergessen wollte“, sagt sie, „Essen war meine Kompensation, um mit dem Leben klarzukommen.“ Ein Kreislauf aus Entsagung, Kontrollverlust, Fressanfall, Kotzen, Erschöpfung.

Heute klingt sie gelöst und munter, was nicht nur daran liegt, dass sie 100 Kilogramm leichter ist, sondern nun das Gegenteil eines heimlichen Lebens führt: Sie ist Buchautorin, Bloggerin, Influencerin, besucht Schulen, um als Prävention über ihre Erkrankung zu sprechen. Auf verschiedenen Social-Media-Plattformen agiert sie wie eine beste Freundin, hat einen YouTube-Kanal, einen Podcast, 460.000 Follower auf TikTok und 39.000 Instagram-Follower.

Das Internet als öffentliche Therapie, funktioniert das?

Nicht nur Jana Crämers, auch diverse andere Blogs und Kanäle widmen sich neuerdings dem Thema „Recovery“, der Gesundung und Genesung von Magersucht, Bulimie oder eben Binge Eating. Jeder Schritt in Richtung Wohlfühlgewicht wird dokumentiert, beschrieben und von den Userinnen begleitet. Das Internet als eine Art öffentliche Therapie, kann das funktionieren? „Die soziale Unterstützung, die Patienten mit Essstörungen online finden, bleibt ihnen im Alltag oft versagt“, so die Psychologieprofessorin Dr. Silja Vocks an der Uni Osnabrück. „Viele fühlen sich von Familie und Freunden unverstanden. In den Foren werden sie akzeptiert.“ Ein angenehmer Gegentrend zu den Internet-Bewegungen „Pro Ana“ und „Pro Mia“, die richtiggehend Anleitungen zum Leben mit Anorexie und Bulimie geben und Betroffene durch Leistungsdruck noch tiefer in die Essstörung hineintreiben. Doch Prof. Silja Vocks weist auch darauf hin, dass allein die Nutzung der sozialen Medien mit den vielen gefilterten Fotos noch lange keine Körperbild- oder Essstörung auslöst: „Wir wissen heute, dass die Entstehung einer Essstörung sehr komplex ist. Ein niedriges Selbstwertgefühl und ein negatives Körperbild spielen dabei definitiv eine Rolle.“ Umso wichtiger, dass die Recovery-Blogs gängige Schönheitsideale in Frage stellen und die Persönlichkeit in den Mittelpunkt rücken. Doch wie anstrengend ist eigentlich so ein Social-Media-Leben mit öffentlicher Gesundung? „Nicht im Ansatz so stressig wie eine Essstörung zu verheimlichen. Da drehen sich die Gedanken 24 Stunden lang nur ums Essen“, sagt Jana Crämer und lacht befreit los. „Jetzt muss ich ja einfach nur ich sein.“ So heißt auch ihr Blog (endlich-ich. com), in dem sie seit 2017 authentisch und sehr nahbar ihre Genesung beschreibt, mit allen Rückschlägen und Zwischenschritten. In einer Fotostrecke sieht man sie nackt, weil sie zeigen wollte, dass auch nach einem Gewichtsverlust von 100 Kilogramm die Welt nicht auf einmal rosafarben glitzert, sondern viel Haut übrigbleibt, wo früher Fettpolster saßen. Eine Userin beschimpfte sie und wünschte ihr eine Vergewaltigung, doch die überwältigende Mehrheit des Feedbacks war positiv. Inzwischen fragen Firmen bei ihr an, bieten sechsstellige Beträge, wenn sie einen Shake oder eine Abnehmpille präsentieren würde: „Da ist mir schlecht geworden. Natürlich ist das verlockend viel Geld, aber ich sehe die Lüge. Ich habe mit diesen Shakes nicht abgenommen.“ Bei ihr findet man keine Werbung, und ihr Blog bleibt kostenfrei.

Nichts ist so stressig wie eine Essstörung zu verheimlichen

Auf meinem Heilungsweg hätte ich mir mehr Menschen gewünscht, die offen über Essstörungen sprechen und schreiben. Es bleibt soviel im stillen Kämmerlein, weil die Scham so groß ist,“ erzählt Franziska Krusche. Ihre Geschichte: Magersucht ab 11, dann Bulimie, Night Eating, Binge Eating, Panikattacken, Krankenhaus. Psychotherapie und Yoga halfen ihr – und die Entscheidung, fortan halb in Indien, halb in Deutschland zu leben. Auf ihrem Blog theheartofbalance.com schreibt die Psychologin über das intuitive Idealgewicht, sie ist auf Instagram und Facebook aktiv, außerdem bietet sie Workshops zum Thema „Yoga und Emotionaler Hunger“ an. Damit schafft sie Raum, offen mit dem Thema umzugehen, statt es allein und im Stillen mit sich auszumachen. „Erschreckenderweise gibt es eine große Dunkelziffer von jenen, die unter ihrem Essverhalten leiden. Das Thema ist stark tabuisiert und jeder Austausch hilft,“ so Franziska Krusche. Ihr früheres Ich bezeichnet sie als „funktional“. Sie tat Dinge, für die sie Anerkennung bekam: abnehmen, studieren, in drei Jobs gleichzeitig arbeiten, reisen, in einer schönen Wohnung leben: „Die Essstörung war eine Möglichkeit, meine innere Zerrissenheit auszuhalten“, reflektiert sie. „Eigentlich wollte ich nichts leisten. Es war nie mein tiefstes Bedürfnis, drei Jobs zu haben. Ich habe nur nach außen hin getan, was in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert hat.“ Erst durch den Entschluss, ihre Jobs kündigen, die Wohnung aufzulösen und Deutschland zu verlassen, spürte sie, was gefehlt hatte: Sinnhaftigkeit, Tiefgang, Innenschau.

An ihrem Tiefpunkt wog sie 44 Kilogramm. Anorexia nervosa (Magersucht) weist eine hohe Sterblichkeitsrate auf: zwischen 10 und 16 Prozent. Heute hat Franziska Krusche ihr Wohlfühlgewicht gefunden und wiegt sich nur noch selten. Ebenso wie Sophie Maria Rudolph, die fast an Magersucht gestorben wäre, da ihr Körper nicht mehr ausreichend Blutkörper produzierte und sich Flüssigkeit in den Organen gesammelt hatte. In ihrem Blog sophies-soulfood.de verarbeitete sie ihre Recovery-Geschichte. Hier findet man Rezepte, Restauranttipps sowie Einblicke in die tückische Krankheit Magersucht: „Als ich so krank war, war der Blog wie ein Ventil, um meine Gedanken zu teilen“, sagt sie. „Durch den Austausch mit Frauen, die ihre Essstörung überwunden haben oder gerade ähnliche Zustände und Ängste erlebten, fühlte ich mich verstanden und nicht mehr allein.“

Das durchweg positive Feedback half ihr durch Höhen und Tiefen. Besonders gut hat sie den Tag in Erinnerung, an dem sie ihre zu klein gewordenen Hosen aussortierte und mit ihrer Community auf Instagram teilte, wie gut es sich anfühlte, nun größere Hosen zu kaufen. „Es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn Betroffene schreiben, dass sie durch meine Offenheit Kraft schöpfen konnten, diese Schritte ebenfalls zu wagen.“ Heute denkt Sophie Maria Rudolph nicht mehr über Gewicht und Kalorien nach, sondern konzentriert sich auf ihr Leben, ihre Familie, das Studium.

Was diese drei Frauen neben der öffentlichen Recovery verbindet, sind ihre Tipps, um Essstörungen vorzubeugen: Niemals Vergleiche ziehen. Das Selbstwertgefühl von vermeintlichen Körperidealen entkoppeln. Sich durch die Augen derer sehen, die einen lieben. Und, falls man in der Krankheit steckt: Vertraute und Verbündete finden. Jana Crämer hat für ihren besten Freund ein Tagebuch geschrieben und darin ihre Not geschildert: „Ohne ihn gäbe es mich vermutlich nicht mehr.“ Sophie Maria Rudolph wandte sich an ihren Vater: „Sich jemandem öffnen zu können, ohne verurteilt zu werden, hat in mir sehr viel Druck gelöst.“ Und: sich bewusst machen, dass es nicht den einen Weg der Genesung gibt und dass Rückschläge dazu gehören. Genau dabei können die Recovery-Blogs unterstützen, bis hin zu einem gesunden Selbstwertgefühl, wie Jana Crämer es formuliert: „Ich bin mehr als eine Essstörung“.

Erschienen in Brigitte

 
 

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