100 FARBEN BLAU

Trans-Reisen werden Kreuzfahrten genannt, bei denen Schiffe in ein anderes Zielgebiet gebracht werden. Während dieser Passagen heißt es: weniger Landausflüge, dafür mehr Zeit an Bord und Meer satt. Eine Reise von Kreta durch den Suezkanal bis zum Persischen Golf

Manche Reisen verlängern sich in der Erinnerung. Noch Wochen nach der Heimkehr träume ich vom angenehmen Schaukeln in endlosem tiefem Blau. Genau die Farbe, die ich 16 Tage lang beim Aufwachen aus dem Kabinenfenster betrachten konnte. Ein Blau, das alles in sich hineinsaugt: Gedanken, Pläne, Zeitgefühl. Es schluckt alles weg und hinterlässt eine Art schwereloser Transzendenz. Mitten im deutschen, dunklen Winter stimmen mich diese Träume versöhnlich, beruhigen mein Gemüt.

Dabei war am Anfang dieser Reise von Gelassenheit keine Spur. Auf Kreta, im Hafen von Heraklion wirkt die „Mein Schiff 6“ wie ein Hochhaus. 14 Decks, Tausende Kabinenfenster. Irgendeines davon würde mir gehören, jedenfalls für diese Transfer- oder im Kreuzfahrtjargon Trans-Reise, die Überführung des Schiffes vom Sommer- in den Winterfahrplan, von Kreta nach Dubai, durch das Mittelmeer, den Suezkanal und das Rote Meer bis zum Persischen Golf. Eine Reise vom alten Europa ins moderne Arabien. Eine Besonderheit dieser Tour sind die vielen Seetage: insgesamt neun an der Zahl, ohne Landgänge. Auf solchen Trans-Reisen ist der Weg das Ziel. Was werde ich mit dieser „leeren“ Zeit wohl anstellen? Oder andersherum: was wird diese Zeit wohl mit mir anstellen?

WO IST VORNE? WO IST HINTEN?

Doch erst mal Wirrwarr. Einchecken und Kabine suchen, so wie 2500 andere Kreuzfahrtgäste auch. Fotografin Maryam und ich verlaufen uns ziemlich oft. Zuverlässig nehmen wir die falsche Kurve, suchen nach den Restaurants, verwechseln Bug und Heck. Nur Deck 12 merken wir uns sofort: Dort ist der Pool, dort halten sich die meisten Leute auf. Einen Seetag lang haben wir Zeit, uns Orientierung zu verschaffen, mit flüchtigen Eindrücken und Gesprächsfetzen, die wir im Vorübereilen aufschnappen: „Vorn ist gesund, hinten ist ungesund“, sagt eine Frau im Fahrstuhl. „Egal, wo wir hingeflogen sind, nie haben wir bezahlt“, dröhnt es aus einer Männerrunde. Gern würde ich mich manchmal dazustellen, um mehr zu hören. Doch das reine Beobachten kleiner Alltagssituationen ist ja auch schon interessant. Im Restaurant fährt eine Frau unwirsch und laut ihren Mann an: „Warum hast du dir kein Ei geholt?“ Der Mann begibt sich daraufhin noch mal verdruckst zum Buffet.

Überhaupt, das Buffet. Im größten Restaurant „Anckelmannsplatz“ gehe ich auch öfter hin: hier den Kichererbsensalat probieren, dort noch eine Gabel vom Bratreis. Das Gratin duftet wunderbar, das Zitronenhähnchen ebenfalls. Zwischendurch ein paar Käsewürfel und mehrere Häppchen Lachs. Essen ist zu jeder Tages- und Nachtzeit massenhaft vorhanden, und ich muss mich nur bedienen. Ein himmlischer Zustand – jedenfalls am Anfang der Reise.

GUCCI AUF ZYPERN

Fast schade, dass wir das erste Ziel schon am dritten Tag erreichen: Zypern. Zu Fuß streifen wir durch Limassol, die lang gestreckte Hafenstadt mit ihrer schönen Promenade. Zur Wasserseite hin reihen sich Edelboutiquen von Prada, Gucci, Versace ... aneinander, abseits in den Nebenstraßen ist es deutlich weniger glamourös: vernagelte Internetcafés, geschlossene Autowerkstätten, brüchige Häuser. Limassols zwei Gesichter: das eine geprägt von der Erwartung einer luxuriösen Zukunft rund um die neue Marina mit schicken Jachten, ein paar Ecken weiter das Charisma einer Arbeiterstadt. Wir nehmen einen Mietwagen und cruisen über die Insel, entlang der Weinroute, zwischen den Hügeln des Troodos-Gebirges hindurch. Es sind enge, kurvige Straßen mit so wenig Verkehr, dass man sich gegenseitig winkt vor Schreck, wenn dann doch mal ein Auto entgegenkommt.

Wir landen in Omodos, das wie ein perfektes griechisches Dorf aussieht: eine Klosterkirche in der Mitte, Weinreben, die über die hell getünchten Fassaden hängen, Kopfsteinpflaster, blühende Oleander in riesigen Formationen und eine angenehm schläfrige Atmosphäre, durch die unzählige Katzen streifen. Wir spüren Stolz über die zufällige Entdeckung dieses Fleckchens und genießen die träge Stimmung so sehr, dass wir die Rückfahrt im gedrosseltem Tempo antreten. Als wir am „Felsen der Aphrodite“ vorbeikommen, einem Top Spot Zyperns, an dem die Göttin der Liebe und Schönheit aus dem Schaum des Meeres an Land gegangen sein soll, verstellt die Masse an Menschen und Bussen den Anblick des Felsens. Wir halten nur kurz.

Zurück an Bord. Das Schiff fühlt sich schon wie ein Zuhause an. Die Kabine ist hübsch übersichtlich: hier der Schrank, da der Schreibtisch, dort das Bett mit Leselampe. Vielleicht braucht man gar nicht mehr? Vielleicht reicht ein Zimmer mit Bad und Platz für ein paar Habseligkeiten? Allerdings müsste es dann auch diesen Ausblick haben: das einlullende Blau und der wolkenlose Himmel gleich darüber.

WIE EIN GEMÄLDE: PORT SAID AM MORGEN

Vier Uhr morgens auf dem Außendeck. Ich habe es für eine schlaue Idee gehalten, so früh aufzustehen. Doch Hunderte andere Gäste hatten denselben Gedanken: auf keinen Fall die Einfahrt in den Suezkanal verpassen! Fast wird es eng an der Reling. Zuerst bin ich enttäuscht, nicht allein schauen zu können, dann doch froh über das Gemeinschaftsgefühl: Ja, das hier ist etwas Besonderes. Vermutlich wird diese Passage für mich und alle anderen um mich herum ein Einmal-im-Leben-Moment sein.

Wir sehen einzelne Lichter an Land. Erst riecht es modrig im Dunkeln, dann sieht man die roten und grünen Lichter der Einfahrt von Port Said glimmen. Ein Schwarm weißer Möwen geleitet das Schiff vorbei an den Wachtürmen. Sechs Uhr. Sonnenaufgang. Die Welt lichtet sich. Backbord beige, Steuerbord grün. Links Wüste, rechts Palmen und Städte. Wie ein Gemälde. Die schmale Wasserstraße führt tatsächlich in eine andere Welt, auf einen neuen Kontinent.

Zwei Schlepper fahren voraus. Unser Schiff ist das erste in einem Konvoi von insgesamt 20. Im gemächlichen Tempo von neun Knoten, was gerade mal knapp 17 Stundenkilometern entspricht, ziehen wir 104 Seemeilen durch den Suezkanal, einen ganzen herrlichen Tag lang. Das Ufer ist so nah wie sonst nie. Arbeiter an Land winken, ziehen den Hut. Kleine Fischerboote kommen nah an unseren schwimmenden Koloss heran. Die Fische nagen am Belag des Unterwasserschiffs, und die Fischer können Beute machen, hier, auf der wichtigsten Wasserstraße des Handels zwischen Europa und Asien.

1859 begannen die Arbeiten daran. Ohne Werkzeuge, mit bloßen Händen wurde gegraben, der Aushub von Sand in Binsenkörben transportiert. In nur zehn Jahren war der Kanal fertig. Ein sensationelles Tempo. Er bescherte Ägypten 5,6 Milliarden Dollar Einnahmen im Jahr 2020. Kein Wunder, dass die Menschen freundlich winken.

SCHNORCHEL-GLÜCK AM RIFF

Glucksendes Glück bei mir. Gerade noch war ich fast ein wenig schläfrig vom so geruhsamen Leben an Bord, jetzt spüre ich beinahe Euphorie. Weil ich mir selbst etwas erarbeite und es nicht einfach vorgesetzt bekomme. Klar, es sind nur ein paar Schwimmzüge im badewannenwarmen Wasser des Roten Meeres – doch die wecken alle Sinne.

Am nächsten Tag erreichen wir Jordanien. In Aqaba starten morgens 25 Busse mit 1500 Menschen. Neben uns liegt ein Schiff der Aida-Flotte mit ungefähr noch einmal so vielen Leuten, die nach einem Landausflug lechzen. Nach zwei Stunden Fahrt durch fantastische Fels- und Wüstenlandschaften erreichen wir die Felsenstadt Petra – die touristische Attraktion des Landes, die pro Jahr etwa 1,5 Millionen Hotelübernachtungen in der Umgebung generiert.

PETRA WIRKT MAGISCH - WENN NUR DIE BESUCHER NICHT HIER WÄREN

Die ehemals verschüttete Hauptstadt der Nabatäer, rund 2200 Jahre alt, könnte magisch wirken, wenn man den Luxus genießen dürfte, hier frühmorgens oder spätabends allein zwischen den Portalen, Toren, Statuen zu wandeln, um etwas von ihrem Zauber begreifen zu können. Doch inmitten von 8000 anderen Besucherinnen und Besuchern – mehr Menschen an einem Tag, als jemals hier gelebt haben – kämpfen wir um ein paar Zentimeter freie Sicht. Dazu die Kamele und Pferdefuhrwerke, die im Galopp zwischen den Massen hindurchrasen. Da bleibt für einen echten Eindruck des Weltwunders kein Raum. Uns fehlt die Resonanz. Von Petra nehme ich nur lose Bilder im Kopf mit und den Vorsatz, mir nachträglich mehr Wissen anzulesen. Genügend Zeit dafür werde ich haben. Sechs Seetage stehen bevor, ohne Stopps, ohne Landausflüge.

„Was auch immer Sie tun, tun Sie’s mit einem Lächeln ins Gesicht“: Jeden Morgen um zehn Uhr tönen dieselben Worte über die Lautsprecher in die Kabine und die Gänge. Der Kreuzfahrtdirektor pflegt seinen holländischen Akzent wie ein Entertainer, sodass ich mich fühle wie eine Statistin in der „Truman Show“. Doch ich gliedere mich perfekt ein in die Abläufe. Jeden Morgen kurz nach sechs haste ich zum Pool und will die Erste sein – doch mindestens 20 andere sind immer vor mir da, und ich kehre wieder um. Drei volle Mahlzeiten pro Tag müssen mindestens sein, diverse Snacks dazwischen auch. Ebenso wird der Sundowner-Drink zum täglichen Ritual. Nach der Kreuzfahrt werde ich vier Kilo schwerer sein und lange brauchen, um sie wieder loszuwerden. Am zehnten Tag kommt mir das erste Mal in den Sinn, dass ein Sportkurs eine gute Idee sein könnte. Faszien-Training, Bauch-Beine-Po, Pilates: Ich probiere alles aus und finde alles prima.

ERST DICK, DANN DUMM?

Dafür setzen erste geistige Verfallserscheinungen ein: Ich vergesse ständig meine Kabinennummer. „Erst dick, dann dumm“, lacht Wolfgang, der schon mehrfache Kreuzfahrt-Erfahrung hat. An diesen faulen Seetagen lerne ich die Mitreisenden besser kennen: Ein Pärchen in den Dreißigern aus Münster, das auch schon sieben oder acht Touren hinter sich hat und diese Art des Reisens effektiv findet: „Sonst müsste man die Länder, für deren Geschichte man sich interessiert, ja einzeln bereisen und viel mehr Flüge buchen.“ Die Freundesgruppe aus Lüneburg, Männer, die eben auch gern jene Länder sehen möchten, in denen man sie wegen ihrer Homosexualität sogar verhaften könnte, sich wegen der Übernachtungen an Bord aber sicher fühlen. Oder das Paar aus Bremen, das auf seiner ersten Kreuzfahrt sich selbst und seine 20- jährige Liebe feiert – mit Champagner und Kaviar zu Mittag.

Ute kauft in den sechs Seetagen fünf Handtaschen in der Shoppingmall an Bord. „Eine zählt ja nicht, das ist nur eine Strandtasche“, sagt sie. Ihre nächste Kreuzfahrt buchen die beiden noch an Bord. Immer wieder stoßen wir auch auf den Hotelmanager Lothar, der überall gleichzeitig zu sein scheint. Sein aktuelles Problem: „Die Gäste wollen, dass ich was gegen die Natur unternehme“, ächzt er, „die Grillen sind ihnen zu laut.“

Langeweile empfinde ich nicht, denn wir bewegen uns ja, das Schiff bewegt sich, man kommt voran, hat ein Vorwärtsgefühl, obwohl man im Grunde nur satt und rund vor sich hin kullert. Abends soll eine „White Party“ steigen. Alle sind sehr aufgeregt und besprechen die Garderobe. Ich habe nichts Weißes dabei und werde deshalb tatsächlich unruhig. Kaufen will ich nichts. Doch ich finde ein schwarz-weißes Ringelshirt im Koffer und fühle mich zumindest halbwegs vorbereitet.

WIR DRIFTEN EINFACH WEITER

Am nächsten Tag fahren wir am Jemen vorbei. Der Kapitän erwähnt in der Borddurchsage, dass die Situation im Land leider schlimm sei, dennoch erwarte uns zum Glück wieder ein herrlicher Tag. 32 Grad Lufttemperatur und 30 Grad warmes Wasser, wolkenloser Himmel. Wir driften einfach weiter. Doch tun wir das im wirklichen Leben nicht auch? Meldungen rauschen heran, wir sind kurz betroffen oder erschüttert, folgen aber flott wieder unseren eigenen Belangen und Bedürfnissen. Genuss und Konsum.

Bevor ich dazu komme, länger darüber nachzudenken, legen wir in Muscat, der Hauptstadt des Oman an. Ich beglückwünsche mich selbst, dass ich schon einmal mehrere Tage in diesem wundersamen Land verbringen durfte, denn jetzt reicht die Zeit nur für einen kurzen Ausflug in einen Souk in Hafennähe. Und am Ende der Reise, in Dubai, entscheide ich mich knallhart für genau eine Aktion, denn auch hier ist wenig Zeit: eine Taxifahrt in die „Dubai Mall“. Bei 35 Grad Außentemperatur kaufe ich eine dick gefütterte Winterjacke.

Zurück an Bord schaffe ich noch knapp das Martinsgans-Essen – und finde mich selbst nur noch ein bisschen seltsam. Höchste Zeit für die Heimreise, für den deutschen Winter, für grauen Himmel und Wolken am Horizont.

Erschienen in BRIGITTE

 
 

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