Metropole Haithabu: EIN UNTERGANG VOLLER RÄTSEL

Haithabu – die reichste Stadt ganz Skandinaviens. Sogar Händler aus dem Orient kauften hier ein, notierten seltsame Bräuche der Wikinger. Doch warum verließen die Bewohner um 1066 urplötzlich ihre Metropole?

Waren sie zermürbt, jene tapferen Nordmänner? Fehlte am Ende die Kraft, um sich zu wehren, als der letzte verheerende Angriff im Schicksalsjahr 1066 ihre einst so glänzende Metropole vollends zerstörte? Fast 300 Jahre lang war Haithabu an der Schlei der wichtigste Handelshafen in Nordeuropa, das Tor zu Skandinavien, die Brücke zwischen Ost- und Nordsee. Der große Trumpf der Stadt: Lage, Lage, Lage. Nur 18 Kilometer entfernt fließt die Treene, die in die Eider mündet, die wiederum geradewegs in die Nordsee führt, perfekt für die Wikingerboote mit geringem Tiefgang. Den kurzen Landweg bewältigten sie mittels Karren und Lasttieren, ein Klacks gegenüber der anderen Route zur Nordsee, bei der die komplette Halbinsel Jütland auf dem Seeweg umfahren werden musste.

Doch nach jener letzten Schlacht wird Haithabu 800 Jahre lang vergessen sein, die Spuren der Stadt verschwinden. Die Wohnhäuser, die Werkstätten, die Stege im Hafen, die Holzbohlen der Wege, die Werkzeuge, die Menschen: überwuchert, vermodert, vergangen. Haithabus Geschichte versinkt buchstäblich im Erdboden und auf dem Grund des Haddebyer Noors, einer flachen Bucht, die damals über die Schlei mit der Ostsee verbunden war.

Im Faulschlamm des Noors gut konserviert, lag die Wikingermetropole über 800 Jahre im Dornröschenschlaf. Bis Ende des 19. Jahrhunderts der dänische Archäologe Sophus Müller dort die Überreste einer Siedlung vermutete. Seitdem ist Haithabu eine Dauerausgrabungsstätte. Allein aus dem einstigen Hafenbecken förderten Archäologen Millionen Relikte zutage: Tierknochen, Gräten, Scherben, Fender aus Wacholderzweigen, geschnitzte Holzlöffel. Ab- gerissene Knöpfe, wuchtige Bronzebarren und edle Gewandnadeln künden von emsiger Geschäftigkeit.

Wurden diese Wertgegenstände in Eile verloren, auf der Flucht oder im Kampf? Oder gingen sie schlicht beim Umladen von Waren über Bord?

Die Anlegestege waren das Herz von Haithabu. Statt auf einem Markt- platz wurde direkt auf den wuchtigen Landungsbrücken aus Eichenholz gefeilscht, getratscht, gesoffen und gekämpft. Bis zu 80 Meter lang und 20 Meter breit ragten die Stege in das Noor hinein. 20 bis 30 an der Zahl. Sie waren der größte Markt Nordeuropas, das eBay des Mittelalters.

Metropole des Nordens

„Haithabu ist eine sehr große Stadt am äußersten Ende des Weltmeers“, schreibt um 965 der arabische Händler Ibrahim ibn Ahmed At-Tartûschi aus dem spanischen Emirat von Córdoba, der die Siedlung an der Schlei besucht. Zu jener Zeit befindet sich Haithabu auf dem Höhepunkt seiner Macht. Es ist reich und glänzend, eine Drehscheibe des Handels. Aus dem Osten, dem Byzantinischen Reich und dem islamischen Herrschaftsgebiet, gelangen Stoffe, Gewürze, Schmuck und Silber nach Haithabu. Aus dem Norden kommen Walross-Elfenbein, Pelze und Roheisen. Aus dem Fränkischen Reich gelangt feines Tafelgeschirr an die Schlei. Außerdem: Bleisiegel aus Byzanz, iberisches Quecksilber, arabische Silbermünzen, Gürtelbeschläge der Wolgabulgaren, notfalls mit Gewalt beschafft. Auch der Menschenhandel floriert, vor allem mit geknechteten Slawen. (Die Ähnlichkeit des Worts „Slawe“ mit „Sklave“ ist kein Zufall.)

In Haithabu leben Friesen, Skandinavier, Franken, Byzantiner, sächsische Kaufmannskolonien und versprengte Vertreter weiterer Völker zusammen. Werkzeugfunde belegen, dass unter den etwa 1500 Einwohnern geschickte Handwerker gewesen sein müssen: Zimmerleute, Schmiede, Metallgießer, Perlenmacher, Goldschmiede, Töpfer und Spinner. Im Gegensatz zu den sesshaften Handwerkern gehen die Haithabuer Kaufleute jedes Frühjahr auf große Fahrt, im Herbst kehren sie zurück. So entsteht ein Netzwerk, das erste Züge eines nordischen Handelsimperiums trägt, ein Vorläufer der späteren Hanse. Wie kann solch eine Metropole so vollständig und beinahe spurlos untergehen?

Zähmung der Widerspenstigen

Das christliche Abendland trifft auf altnordisches Heidentum. Reichtum zieht Neider an. Immer wieder steht Haithabu im Kreuzfeuer. Harald Blauzahn, der von 940 bis 987 Dänemark (und damit meist auch Haithabu) regiert, muss sich bei Kämpfen an der dänisch-sächsischen Grenze 974 geschlagen geben. Die Sachsen herrschen daraufhin in Haithabu, bis dänische Truppen den wertvollen Ort neun Jahre später zurückerobern. Klar: Die Herrschaft über die Handelsroute zwischen den Meeren spült den jeweiligen Königen Steuer- und Zolleinnahmen in den Geldsack.

Neben den stürmischen Kämpfen um Herrschaftsgebiete bringt eine andere Entwicklung noch größere Erschütterungen der Wikinger-Welt: die Christianisierung Skandinaviens, welche tiefgreifende Veränderungen in allen Gesellschaftsschichten bewirkt. Auf einmal spielen Kultur, Lehre und Bildung eine Rolle, sogar die Ernährung wird reguliert (Stichwort Fastenzeit). An den Königshöfen preisen die Skalden nun nicht mehr den heidnischen Kämpfer, sondern den christlichen Krieger. Olaf der Heilige, Norwegens König von 1015 bis 1028, verkörpert den neuen Herrschertypus, der Raubfahrten aus religiösen und politischen Gründen untersagt. „Die vorher heidnischen Wikinger, die das christliche Abendland verwüsteten, plünderten, zerstörten, brandschatzten, die reiche Klöster in England und Irland niederbrannten – sie werden auf einmal christliche Partner ihrer ehemaligen Opfer“, fasst Dr. Volker Hilberg vom Archäologischen Landesmuseum Schloss Gottorf in Schleswig den gesellschaftlichen Wandel zusammen. Hilberg leitete vier Jahre lang ein Forschungsprojekt über den Untergang des zentralen Umschlagplatzes Haithabu. Die Ergebnisse werden ab 2019 in einer Ausstellung präsentiert. Quintessenz: Der Geist einer neuen Zeit scheint sich an diesem historischen Wendepunkt durchzusetzen. Und Haithabu kommt nicht mehr mit.

Wikingerdämmerung

Verschläft Haithabu diese Zeitenwende? Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben: Dies galt auch schon vor 1000 Jahren an der Schlei. Die Umwälzungen der Christianisierung kommen damals wohl nur schleppend in Haithabu an, das berühmt-berüchtigt für heidnische Kulte ist: wo Neugeborene ausgesetzt und wo Kadaver geschlachteter Opfertiere an Pfählen aufgespießt werden. In jener Stadt, über deren Bewohner der arabische Reisende At-Tartûschi schockiert schreibt: „Nie hörte ich hässlicheren Gesang ..., und das ist ein Gebrumm, das aus ihren Kehlen herauskommt, gleich dem Gebell der Hunde, nur noch viehischer als dies.“

Wie sollen aus diesen ungeschliffenen Normannen fromme Christen werden? Sicher scheint, dass in der Welt des Handels die alte Wikingermentalität am längsten bestehen bleibt. Haithabu hält es flexibel mit der Religion. Das christliche Kreuz ziert einträchtig mit dem Hammer des Donnergottes Thor denselben Amulettschmuck. Zwar wurde in Haithabu ausweislich von Urkunden bereits 948 ein christliches Bistum gegründet. Allerdings: „Bisher deutet kein archäologischer Befund darauf hin, dass auch tatsächlich ein Bischofssitz eingerichtet wurde oder ein Bischof ständig anwesend war“, so Hilberg. Er hätte es auch gewiss nicht gemütlich gehabt.

Haithabu als Angriffsziel

Gekracht hat es immer wieder, im Kleinen wie im Großen. Etwa um das Jahr 1050 wird ein ungefähr 30 Meter langes Langschiff offenbar als „Brander“ gegen die Hafenanlagen Haithabus gesetzt. Angreifer müssen es angezündet haben, um es auf die Hafenanlage zutreiben zu lassen. Das verkohlte Steuerbord und Brandspuren am Brückenkopf im südlichen Hafen deuten auf diese Möglichkeit hin – ebenso wie der Fakt, dass keine Reste von Ausrüstung, Ladung oder Besatzung gefunden wurden.

Das Wrack des schnittigen Gefährts aus Esche und Eiche sinkt auf den Boden des Noors. Erst 1979 kann es geborgen werden und ist heute als Rekonstruktion „Haithabu 1“ im Wikinger-Museum Haithabu zu besichtigen. Das Holz des Langschiffs stammt aus Jütland – wurde Haithabu also tatsächlich von direkten Nachbarn überfallen?

In diesen unruhigen Zeiten scheint alles möglich. Der nächste verbriefte Angriff auf Haithabu kommt aus dem Norden. Dort wütet Harald Hardråde, Harald der Harte. Im Jahr 1047 übernimmt er nicht nur die Alleinherrschaft in Norwegen, sondern erhebt auch Ansprüche auf den dänischen Thron. Dies macht er unmissverständlich klar, indem er Raubzüge gen Süden unternimmt. Der dänische König Sven Estridsson muss stets auf der Hut sein. Jederzeit könnte eine Flotte von Harald Hardråde auf dem Kattegatt auftauchen. Der gilt als besonders brutal. Und als extrem reich: Lange Jahre hatte er in der „Waräger-Garde“ des Kaisers von Byzanz gedient, hatte gegen Sizilien gekämpft und gegen die Araber. Und auf Raubzügen so viel erbeutet, dass er nach der Rückkehr nach Norwegen sein Gefolge mit purem Gold bezahlen kann. 1066 wird Harald Hardråde übrigens um die englische Krone kämpfen und sterben, nur 16 Tage bevor der Normanne Wilhelm der Eroberer das Land unterwirft. Doch zu- nächst steht im Jahr 1050 Haithabu auf Haralds Agenda.

„Verbrannt wurde von einem Ende zum anderen ganz Haithabu im Zorn, eine vor- treffliche Tat, meine ich, die Sven schmerzen wird. Hoch schlug die Lohe aus den Häusern, als ich in der Nacht vor Tagesgrauen auf dem Arm der Burg stand.“

So berichtet triumphierend ein unbekannter Skalde aus dem Gefolge des Norwegerkönigs Harald.

Ganz anders hingegen die Tonart der Gegenseite, hier in einem Vers von Þórleikr fagri, des isländischen Hofdichters in Diensten des dänischen Königs Sven Estridsson:

„Wie rachbegierig der König sich nach Haithabu begeben hat, kann ein Fürst, der es nicht weiß, vom Gefolge des Königs erfahren, damals als Harald einst ohne Grund seine Schiffe von Osten zur Stadt des Königs fahren ließ. Das hätte nicht sein müssen.“

Der Angriff erfolgte von See aus. Es war Nacht. Es wurde Feuer gelegt. Es muss die Bewohner aus dem Schlaf geschreckt haben. Die Folgen: verheerend. Doch es ist noch Leben in Haithabu nach dem Überfall. Jedenfalls noch für ein paar Jahre, bis zum nächsten großen Angriff im Jahr 1066.

Nur eine Notiz des Chronisten Adam von Bremen gibt Auskunft über den endgültigen Untergang: „(...) wurde Sliaswig (gemeint ist Haithabu) an der Grenze des Dänenreichs, ein sehr wohlhabender und volksreicher Ort, durch einen plötzlichen heidnischen Überfall gründlich zerstört“.

Der „heidnische Überfall“ wird dem slawischen Stamm der Abodriten zugeschrieben, die östlich der Kieler Förde leben. Im Jahr 1066 erheben sich die Abodriten gegen ihren Fürsten Gott- schalk, der sich um die Christianisierung bemüht und auf erbitterten Widerstand seines Volkes stößt. In ihrer Raserei stürmen die Aufständischen weiter nach Westen, nehmen den Burg- wall Ratzeburg ein, die Hammaburg in Hamburg, erschlagen Gottschalk, zerstören Haithabu. Nicht einmal der zehn Meter hohe und 1,3 Kilometer lange Halbkreiswall kann die Bewohner vor der Horde aufgebrachter Slawen schützen: „Im Prinzip verhalten sich die heidnischen Slawen damals wie die Wikinger in früheren Zeiten. Sie rauben und brandschatzen – genauso, wie es die Skandinavier über Jahrhunderte getan haben“, so die Einschätzung von Volker Hilberg. Beinahe könnte man annehmen, dass mit der Christianisierung eine Erschlaffung der legendären Wikingerkraft einhergegangen ist.

Aus der Zeit gefallen

Neben den zerstörerischen Angriffen auf Haithabu gibt es noch einen weiteren Grund für den Untergang der Handelsmetropole – oder dafür, dass sie nicht wieder aufgebaut wurde: das Müllproblem, an dem ja auch heute noch Großstädte zu ersticken drohen. Über Jahrhunderte entsorgen die Bewohner Haithabus ihre Abfälle im Hafen. Bis zu 2,5 Meter hoch lagert der Unrat in Ufernähe und bewirkt eine Verlandung der Anlegestellen. Gemeinsam mit dem riesigen Wrack des gesunkenen Langschiffs vor der Einfahrt dürfte der Müll das Einlaufen von beladenen Schiffen nach Haithabu immer beschwerlicher gemacht haben.

Der Hafen vermüllt, die Bewohner durch Überfälle geschwächt, dazu ein Stadtbild aus dem 9. Jahrhundert – war die einstige Wikingermetropole nicht mehr zeitgemäß? „Haithabu muss Mitte des 11. Jahrhunderts sehr altertümlich gewirkt haben. Der Ort entsprach bei Weitem nicht mehr dem Repräsentationsbedürfnis eines Bischofs oder eines dänischen Königs“, fasst Hilberg zusammen. Zumal sich im Ostseeraum im Zuge der Christianisierung überall alte Siedlungen in modernere Orte mit bequemeren Häusern verlagern.

In Schweden wird die Wikingersiedlung Birka von Sigtuna abgelöst, der alte Kultort Uppåkra wird nach Lund verlegt, in Dänemark gehen Tissø und Lejre im neuen Roskilde auf, das zur Vorzeige-Königsstadt wird. Sicherlich hätte man auch in Haithabu anfangen können, alte Werkstätten abzureißen und Protzbauten zu errichten, doch bisher kennt man keine archäologischen Spuren repräsentativer oder sakraler Bauten. Keine Kirche, kein Königspalast, kein Bischofssitz, nichts dergleichen hat man finden können.

Untergang und Neuanfang

Und was war nach 1066? Das ist eine Frage, die Historiker und Archäologen seit Jahrzehnten ins Schwitzen bringt. Gründeten die verbliebenen Einwohner Haithabus nach der letzten Schlacht am Nordufer eine neue Stadt, die wir heute als Schleswig kennen? Wurde hier ein Ort im Ganzen umgesiedelt? Oder existierte Schleswig schon vorher – und die Menschen von Haithabu fanden dort bloß Zuflucht, nach und nach, in einem Jahrzehnte währenden Exodus?

Das war bislang schwer zu beurteilen. In Haithabu gab es aufgrund fehlender Funde einen „luftleeren Raum“ zwischen 1000 und 1066. Doch dieser kann jetzt durch die Forschung der letzten Jahre gefüllt werden, nachdem die Erdoberfläche mit modernen Metalldetektoren untersucht worden ist. Auf einmal fand man Münzen und Keramik aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Und so lautet ein Zwischenergebnis von Hilbergs Forschung, dass in Haithabu bis zu dieser Zeit noch intensiver Handel betrieben wurde, die Stadt war vielleicht angeschlagen – aber noch nicht tot: „Zum ersten Mal haben wir mit diesen Funden die Spätphase vor Augen“, freut sich Hilberg.

Im Hafen von Schleswig konnte man mithilfe der Dendrochronologie (der Altersbestimmung historischer Hölzer) dagegen jetzt feststellen, dass tatsächlich erst um das Jahr 1066 dort die Bauaktivitäten begonnen haben. Dies stützt die These, dass die verbliebenen Haithabuer Bürger erst nach Zerstörung der Stadt ans Nordufer umziehen. Womöglich auf Befehl von oben, glaubt Hilberg: „Der dänische König kassierte Zölle. Dafür musste er gewährleisten, dass der Seehandel störungsfrei funktioniert. Dies dürfte in einem vermüllten und zerstörten Haithabu schwierig gewesen sein.“

Der Übergang scheint gelungen: Die wikingerzeitliche Siedlung Haithabu wird von der mittelalterlichen Stadt Schleswig abgelöst. 1134 entsteht dort ein Dom und 1161 eine Burg. Bis ins 13. Jahrhundert wird Schleswig eine Handelsmetropole sein – bis sich Lübeck als Herz der Hanse etabliert. Doch die Grundlagen für das Handelsimperium der Hanse – sie wurden am Südufer der Schlei gelegt, am Haddebyer Noor. Bisher wurden in Haithabu erst fünf Prozent des Stadtgebiets und 1,5 Prozent des Hafens untersucht. Die Geschichte der Wikingerstadt wird weitergeschrieben, ganz sicher.

Erschienen in P.M. HISTORY

 
 

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