SCHWINDEL IM KOPF

Schon der Gedanke an hohe Berge, Brücken oder Anhöhen löst Nervosität aus. Wie lästig. Vielleicht hilft ein Ausflug in den Kletterpark, um gegen die Angst zu trainieren

Gipfelglück. Ein herrliches Wort. Die meisten Menschen verbinden positive Emotionen damit. Man hat eine Höhe erreicht, schaut stolz nach unten, auf die zurückgelegten Meter, genießt den Ausblick und das Gefühl, dem Himmel ein Stück näher gerückt zu sein. Dieses Gefühl kannte ich mal. Doch heute? Erfüllt mich der Blick von einer Höhe in einen Abgrund mit Grauen. Sogar jetzt. Nur sieben Meter über dem Erdboden. Im größten Kletterpark von Dänemark, dem Camp Adventure in Rønnede auf der Insel Seeland, etwa eine Autostunde von Kopenhagen entfernt, will ich etwas gegen die lästige Höhenangst tun. Wobei es sich eher um Höhenschwindel handele, wie Petra Müssig im Interview erklärt. Die dreifache Weltmeisterin und 13-fache Gesamtweltcupsiegerin im Snowboarden arbeitet heute als zertifizierte Lehrerin für MBSR (achtsamkeits-basierte Stressreduktion) und bietet ein- bis dreieinhalbtägige „Höhenmutkurse“ – auch über den DAV Summit Club – an, die sich an Menschen richten, die schwindelfrei werden wollen.

Ist mir etwa schwindelig, weil ich falsch kucke?

Ich bin also nicht allein mit dieser hinderlichen Eigenheit. Laut einer Studie der LMU München sollen 28 Prozent der Erwachsenen Angst vor großen Höhen haben. Bei Frauen liegt der Anteil mit 32 Prozent höher als bei Männern mit 25 Prozent. Von diesen 28 Prozent zeigen vier bis sechs Prozent eine klinische Form der Höhenangst (Akrophobie). Die habe ich hoffentlich nicht. Eine bodennahe, wacklige Hängebrücke habe ich immerhin bereits gemeistert.

Der kletterfreudige Sohn kann sich sein Grinsen kaum verkneifen, als er mir zuschaut. Bevor ich mich an eine höhere Zipline (auf Deutsch: Seilschaukel) heranwage, erinnere ich mich an die Worte von Petra Müssig: „Wahrscheinlich kucken Sie falsch. Höhenschwindel erlebt man, wenn das Auge kein peripheres Objekt, kein feststehendes Objekt fassen kann. Schauen Sie nicht nach unten und nicht nach oben, sondern direkt geradeaus. Dahin, wohin es gehen soll. Höhenschwindel entsteht, weil das Gehirn widersprüchliche Informationen erhält. Die Füße signalisieren dem Gehirn einen festen Stand, zugleich haben die Augen aber durch die Höhe Probleme damit, fixe Punkte in der Umgebung anzuvisieren. Ein Wechsel der Blickrichtung zwischen geradeaus, auf den Horizont, und auf den Boden, kann solche Schwindelanfälle rasch reduzieren.“ Außerdem solle ich mir unbedingt Zeit lassen, ruhig atmen, mit kleinen Höhen beginnen.

Es hilft, dass die zwölf Parcours des Kletterparks durch einen wunderschönen Buchen- und Eichenwald verlaufen und in unterschiedliche Schwierigkeitsgrade aufgeteilt sind, so dass man flach einsteigen kann. Die gut aufgelegten Instrukteure sind immer in Sichtweite, auch das beruhigt mich. 30 Minuten dauerte die Einweisung in der Gruppe, jeder Besucher erhält danach die Ausrüstung: einen Helm und einen Klettergurt, mit dem man sich mittels Karabinerhaken an den Stahlseilen einhaken soll. Eine Hand immer am Seil. Nochmal bewusst einatmen, die tiefe Bauchatmung, nicht das flache Flatteratmen. Und: „Nicht im Verstand verharren. Positiv zu denken oder sich sogenannte Glaubenssätze aufzusagen, ist deshalb vergeblich, weil solche kognitiven Ansätze mit zunehmendem Stress immer weniger gut funktionieren. Lieber die Aufmerksamkeit darauf richten, was Sie hier und jetzt gerade tasten, spüren, hören oder riechen könne“, so die Trainerin Petra Müssig.

Ich spüre Herzklopfen, Schwindel, feuchte Hände

Also gut. Ich bewundere nun die Textur der Baumstämme direkt vor der Nase. Betrachte die haarigen Waden der anderen Gäste. Alle scheinen bestens aufgelegt. In der Luft, über meinem Kopf, surrt und zischt es, dazwischen Töne wie „Yippiiiee“, „Oh neeej“, „What the fuck!“. Jubelnden Siebenjährigen lasse ich gerne den Vortritt, die können daseinfach besser. Ebenso wie etliche drahtige Ü-50 oder Ü-60-jährige Zipliner in euphorischer Stimmung. Keine Alterssache offenbar. Sieben Meter werde ich doch schaffen, denke ich, während ich die vertrauten Symptome wahrnehme: Herzklopfen, Schwindel, feuchte Hände. Ich beschließe, dieseNebenwirkungen als lästig, aber nicht lähmend zu akzeptieren. Ich richte den Blick geradeaus nach vorn, direkt auf das Seil. Es wird mich halten, ebenso wie es alle anderen auch hält. Einfach tun. ImVertrauen bleiben. Einmal leicht abstoßen, dann sause ich los. Es dauert nur Sekunden, aber die Mutprobe ist geschafft. Ein kleiner Adrenalinschub. Leichter Stolz.

Gleichzeitig spüre ich, dass mir 15 oder 25 Meter Höhe für heute zu unangenehm wären. Wieder denke ich an Petra Müssig: „Viele übernehmen sich, besonders im Urlaub. Es gibt Menschen, die in ihren freien Tagen alles auf einmal erleben wollen. Doch wenn Sie nur einmal im Jahr wandern oder klettern, sollten Sie langsam beginnen. 75 Prozent derMenschen sind nicht fit genug für ihre Pläne, es fehlt an der Koordinationsfähigkeit“. Das könnte auch auf mich zutreffen, da war schon mal mehr Muskelmasse vorhanden, etwa in den Beinen. Ein gutes Argument für eine Pause, finde ich. Das stramme Laufen auf den Holzbohlenwegen imWald fühlt sich wunderbar an. Vielleicht reicht es, wenn ich die sieben Meter einfach nochmal absolviere? Diesmal klappt der Höhenflug geschmeidiger.

Manchmal entwickelt sich Höhenangst durch Elternschaft

Doch wo steckt eigentlich der Herr Sohn? Vorhin hatten wir die verschiedenfarbigen Parcours auf der Übersichtstafel studiert. Ich befand: „Die pinkfarbene oder die rote Linie dürften am schwierigsten sein.“ Und er: „Danke für diesen Hinweis“. Weg war er. „Höhenangst kann sich im Alter entwickeln. Beispielsweise durch Elternschaft. Wenn Mutter oder Vater stellvertretend Höhenangst erleiden, wenn das Kind nach dem eigenen Empfinden zu hoch klettert oder abspringt,“ hatte Petra Müssig gemeint. Genau dieses Phänomen kenne ich und durchlebe das jetzt wieder.

Diese pinkfarbene Route dauert verdammt lang. Zwischenzeitlich sehe ich den Sohn vor dem inneren Auge hilflos irgendwo hängen. Zwischendurch blinken Glaubenssätze in das Bewusstsein: „Er schafft das“, „Lass mal locker“, „Hier ist alles sicher“. Drumherum sind alle gut gelaunt und überhaupt nicht besorgt.Wo bleibt der Junge nur?Nach 90 Minuten bin ich kurz davor, die Instrukteure zu bitten, mir bei der Suche nach einemZwölfjährigem zu helfen. Kurz vor Umsetzung dieses Gedankens erscheint das vermisste Kind endlich: „Ich kann das erklären“, fängt er an und erzählt, dass jemand anderes steckengeblieben sei.

Mein persönlicher Albtraum: Endlos über einem Abgrund hängen

steckengeblieben sei. Er verbrachte über eine Stunde Wartezeit auf einer Plattform, bis sich die Nachricht verbreitete, einer der Instrukteure kam und die am Seil Feststeckende mit einem kräftigen Anschub an das Ziel beförderte. Was er erzählt, trifft sich exakt mit meinem persönlichen Albtraum: Endlos über einem Abgrund hängen. Gut, dass ich nicht dabei war. Gut, dass diese Dinge gelöst werden.

Einen letzten Triumph gönnen wir uns noch. Wir laufen den „Forest Tower“ hoch, den 45 Meter hohen Aussichtsturm in eleganter Sanduhr-Form. Nach eigenen Angaben soll es sich um den höchsten Aussichtsturm Skandinaviens handeln, insgesamt 140 Meter über dem Meeresspiegel. Da er stufenfrei gestaltet ist, fühle ich mich sicher. Das Laufen fühlt sich leicht an, immerhin haben wir festen Boden unter den Füßen. Dieser Aufgang passt auch für Rollstühle, die Steigung bleibt moderat.

Ich sollte und müsste weiter trainieren. Kann doch nicht so schwer sein: Mehr Konzentration, bessere körperliche Kondition gehören dazu. Alles schön langsam im eigenen Tempo. Oben angekommen können wir Kopenhagen, Malmö und natürlich die blaue Ostsee erkennen. Eine schöne neue Aussicht.


INFORMATIONEN

† Das Camp Adventure hat mehrere Auszeichnungen erhalten, unter anderem wurde er vom US-amerikanischen „TimeMagazine“ zu den „Greatest places of the world“ gezählt. Er bietet auch Übernachtungsmöglichkeiten in Waldkabinen und Glamping-Yurten an: www.campadventure.dk

† Zum Lesen: „Höhenmut statt Höhenangst: Schritt für Schritt zum Berggenuss“ von Petra Müssig, pietsch Verlag, 144 Seiten, 18,95 Euro, www.hoehenmut.de



Erschienen in Schleswig-Holstein am Wochenende, shz-Verlag

 
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