Von Monika Dittombée

JETZT MAL EHRLICH!

Keine Lügen. Keine Beschönigungen. Stattdessen habe ich probiert, eine Woche lang nichts als die Wahrheit zu sagen. Easy - oder etwa nicht?

TAG 1 Jetzt ganz woanders sein. Verschwinden. Mich in Luft auflösen. Oder besser noch: die Zeit zurückdrehen. Wenigstens fünf Minuten zurück. Da war noch alles gut. Und nun? Röte im Gesicht. Unruhige Hände. Trockener Mund. Schnell den Horizont fixieren, Sicherheit gewinnen. Und all das nur wegen eines wahren Satzes: „Ich hätte Lust auf dich.“ Es ist unser erstes Date, ein Spaziergang am Strand. Dieses Gefühl, dieser Satz hatte mich angesprungen und ich habe ihn dann eben ausgesprochen. Ohne Nachdenken, wie ein Überfall. Mein Begleiter guckt nur kurz irritiert und erzählt weiter aus seinem Job. Er redet immer schneller, ich werde immer schweigsamer, während die Gedanken rotieren. Kann es sein, dass mein Experiment schon am ersten Tag scheitert? Eine Woche lang die Wahrheit sagen. Dazu gehört auch, die Konsequenzen aushalten zu müssen. Andererseits: Beim Abschied küssen wir uns sacht. Fühlt sich gut an. Gerade in diesem chaotischen Jahr, in dem es keine endgültigen Wahrheiten zu geben scheint, in dem die Welt sich jeden Tag verändert, mal kleiner, mal größer erscheint – und verziert und verzerrt durch Eilmeldungen, Diagramme und Statistiken ihren Ist-Zustand im Stundentakt ändert. Die Konturen verschwimmen im steten Rauschen zwischen Fakten, Fakenews und Verschwörungstheorien. Da scheint das Bedürfnis nach Wahrheit zu wachsen. Nach etwas Echtem, was zum Festhalten. Da ich das Große und Ganze kaum beeinflussen kann, versuche ich es im Kleinen. Bei mir selbst und der nahen Umgebung. Die Wahrheit im Mikrokosmos. So stoße ich auf den Begriff der „Radikalen Ehrlichkeit“, eine Bewegung mit Coachings, Workshops und Büchern. Erfinder ist der amerikanische Psychotherapeut Brad Blanton. In seinem Buch „Radikal ehrlich“, eine Art Duden der Wahrheitsfinder, beschreibt er sein Konzept: Keine Lügen. Ohne Rücksicht auf Umgangsformen, denn Taktgefühl und Moral entfernten uns von uns selbst. Sein Versprechen: Wenn wir benennen, was in uns vorgeht, können wir uns besser mitteilen und kommen dadurch anderen näher. Es ist nicht so, dass ich jemandem unbedingt die Meinung geigen müsste, das stelle ich mir während der Lektüre fast einfach vor. Nein, es geht um die kleinen Beschönigungen, die einem Tag für Tag wie von selbst rausrutschen: „Bin fast fertig“, „Gut siehst Du aus“, „Natürlich können deine drei Kinder morgen zum Spielen kommen“, „Alles gut!“ Der Mensch lügt 150 bis 200 Mal pro Tag, ergab eine Studie. Auch Ironie, Hochstapelei und Untertreibung gehören dazu. Solche Schwindeleien türmen wir auf, bis wir ein Schloss daraus gebaut haben, das wir Leben nennen, doch innerlich auf Dauer daran zerbrechen könnten. Blanton schreibt, dass unsere Lügen der Grund für einen ungesunden Lebenswandel seien, dass Alkohol, Drogen oder Völlerei als Fluchtwege aus diesem Lügenschloss fungieren und wir letztlich daran sterben. Ganz so zerrüttet fühle ich mich – zum Glück – nicht. Doch die Materie scheint anspruchsvoller als gedacht. Immerhin war ich schon so umgarnt vom Gelesenen, dass ich beim Date nicht das sexy Kleid getragen habe, das ich eigens dafür gekauft hatte. Kurz vor dem Losgehen fühlte es sich grundsätzlich falsch an: Enge-Gefühl am Hals, nervöses Herumzippeln, Mogelpackung eben. Stattdessen bin ich in fast normaler Alltagskleidung erschienen. Unsexy, aber genug bei mir selbst, um ein starkes und heikles Gefühl auszusprechen.

Tag 2 bis 4 Nordseeurlaub mit drei Freunden. Es perlt. Wir sind innig und vertraut miteinander, dass jede Wahrheit zwischen uns ihre Berechtigung hat. Tom ist ein grauenhafter Autofahrer. Wissen alle, auch er selbst, das darf gesagt werden. Anna hatte endlich Sex mit dem Mann, in den sie seit Monaten verliebt war: „Ich hatte mir Leidenschaft gewünscht, doch ich konnte sie weder spüren noch erzeugen. Das war einfach nur wie eine Turnstunde.“ Alle schönen Gefühle sind nun auf einmal weg und sie fühlt sich einsam. Darauf einen Wein und viele weitere Wahrheiten. Eigentlich normal bei uns, doch durch meine geschärfte Wahrnehmung fühle ich überquellende Dankbarkeit. Für Menschen, bei denen mir nichts falsch vorkommt, ob Peinlichkeiten, Misstritte oder Kraftausdrücke. Diese Erkenntnis vervielfältigt sich von selbst: Ich sende Nachrichten an weitere Freunde, bei denen kein Verstellen möglich und keine Lügen nötig sind. Schleichend geschieht im Hintergrund auch eine Art Selektion: Wer ist wichtig und wer nicht? Wem schreibe ich, wem nicht?

Manchmal wird Ehrlichkeit belohnt

Tag 5 Zurück zu Hause. Es hakt bei den Bekannten aus der zweiten Reihe. Im Normalzustand würde ich über flüchtige Begegnungen kaum nachdenken. In dieser Woche des Hinterfragens werden sie zum Drahtseilakt, weil ich jede Sinnhaftigkeit prüfe: Muss ich jetzt aus Höflichkeit noch länger in der Kälte auf der Straße stehen und mir Geschichten über den neuen Hund der Bekannten einer Bekannten anhören, die ich nicht mal kenne? Nein, muss ich nicht: „Entschuldige, ich muss los“, das kostet nur kurz Überwindung. Im Sinne des Buches hätte ich zwar sagen sollen: „Das Thema interessiert mich null.“ Aber ich will niemanden verletzen. Wenn ehrliche Worte zu schwer fallen, helfe auch nonverbale Kommunikation: die Situation verlassen, sich vom Geschehen entfernen. Meine Sinne sind wach. Ich bin mehr im Augenblick als sonst. Höre auf Körpersignale: Wenn ich unruhig die Hände reibe oder mit den Knien wippe, hätte ich das früher überspielt, nun folgt der passende Impuls: Nur weg hier. Einer Bekannten sage ich eine Verabredung ab: „Nein, ich möchte heute keinen Wein trinken, sondern lieber ein Buch lesen.“ Ihre Reaktion: „Kenn ich. Mach dich nicht verrückt.“ Erstaunlich: Ich ernte keine Ablehnung, sondern Verständnis. Das gefällt mir am besten an der „Radikalen Ehrlichkeit“. Es geht um präzisere Wahrnehmung und Kommunikation, die im Idealfall andere animiert, sich ebenfalls zu öffnen. Blanton setzt darauf: „Wenn wir alle ehrlich zueinander sind, funktioniert das Prinzip. Und es geht allen besser.“ Statt Floskeln wie „Alles gut“, überlege ich eine Sekunde länger für eine ehrlichere Antwort, um gehaltvollere Gespräche zu führen. Also lieber: „Ich fühle mich schlapp“ statt „Mir geht’s prima“, dann folgen Nachfragen und ich fühle mich tatsächlich besser und verbunden mit der anderen Person. Ich traue mich auch, telefonisch einen Jobauftrag abzulehnen: „Ich kann das zeitlich nicht schaffen.“ Normalerweise hätte ich eine Nachtschicht eingelegt, nun bekomme ich Verlängerung für die Textabgabe und kann den Auftrag annehmen. Manchmal wird Ehrlichkeit sogar belohnt.

Tag 6 „Du haftest in der Welt, beschwert von Ketten, doch treibt, was wahr ist, Sprünge in die Wand.“ Diesen Auszug aus einem Gedicht von Ingeborg Bachmann leitet mir eine Freundin weiter, der ich von meiner Woche der Wahrheit erzählte. Jetzt habe ich den Punkt erreicht, an dem ich „Sprünge in der Wand“ sehen könnte, aber nicht sehen will. Wenn man sich zu tief in dieses Wahrheitsthema reindenkt, könnte das ganze Leben in Schieflage geraten. Ich erwische mich bei Sinnfragen: Was tue ich wirklich gerne? Und was tue ich nur, weil ich denke, dass ich es tun muss? In welchen Beziehungen fühle ich mich rundum wohl? Wer strengt mich an? Ja, da klingelt was, da wären einige Baustellen. Ich müsste etwa zwei lange Freundschaften in Frage stellen, weil ich mich nicht mehr darin wohlfühle. Doch ich will nicht im Wahrheits-Rausch etwas entzwei hauen, was ich später bereue. Lieber noch Zeit vergehen lassen. Blanton schreibt: „Wir müssen bereit sein, wütend anstatt anständig und fair zu sein, denn das sind wir in diesem Moment: wütend, nicht anständig und fair“. Ich mag Anstand. Lege das Buch beiseite.

Tag 7 Diese Woche der Ehrlichkeit fühlt sich nun nach Ego-Trip an. Zuviel Selbstbeschäftigung tut nicht gut. Ich will locker lassen. Wahrheit ist wahnsinnig anstrengend. Für mich ziehe ich den Schluss, dass es eher um Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber geht – in der Hoffnung, dass diese Haltung ansteckend wirkt. Und das Date? Bisher hält er sich erfolgreich bedeckt. Wir chatten hin und her, jonglieren mit Andeutungen, die in der Luft hängen bleiben. Auch mal wieder schön. Meine Wahrheit kennt er bereits, seine hält er zurück. Selbst schuld. Muss wohl erst das Buch lesen.

Erschienen in BARBARA

 
 

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