FIRST LADY DER REVOLUTION

Vertraute von Lenin und erste Ministerin der Welt: Ihr Leben widmet Alexandra Kollontai dem Kampf für die Arbeiterklasse

Von der Newa bläst ein scharfer, böiger Wind herüber, in Sankt Petersburg bricht langsam die Nacht an. Eine Nacht, die Russland verändern wird. Im Smolny-Institut, einer höheren Lehranstalt für adlige Mädchen, ist im Oktober 1917 der Tagungsort des Petrograder Sowjets. Hier beraten und debattieren die Revolutionäre, die das alte Zarenreich zu einem sowjetischen Staat formen wollen.

In einem Zimmer mit Blick auf die Newa sind in dieser dunklen Nacht zum 25. Oktober 1917 die einflussreichsten Bolschewiki versammelt, die radikalsten unter den Revolutionären. Eine Glühbirne, die über einem kleinen quadratischen Tisch hängt, verbreitet trübes Licht. Um den Tisch haben sich die Mitglieder des Zentralkomitees versammelt. Eine davon ist Alexandra Kollontai. Alle wissen, dass Großes bevorsteht. Auch Lenin ist im Raum, ruhig und entschlossen. „In seinen Anordnungen, in seinem ganzen Tun lagen eine Klarheit und eine Kraft, wie sie nur ein sehr erfahrener Kapitän im Sturm aufweist“, schreibt seine Anhängerin Kollontai bewundernd. „Und dies war fürwahr ein Sturm wie nie zuvor, der Sturm der großen sozialistischen Revolution.“

Der Angriff auf das Winterpalais steht an diesem Abend unmittelbar bevor. Alexandra Kollontai gehört zu den engsten Vertrauten von Wladimir Iljitsch Lenin. Die Kommunistin und Frauenrechtlerin ist eine schillernde, streitbare Persönlichkeit. In jener Nacht ist Alexandra Kollontai zufrieden. Der „Sturm“, auf den sie jahrzehntelang hingearbeitet hat, endlich ist er da. Und die Zukunft, sie scheint hell und klar: „Wenn man mich fragte, welche die größte und denkwürdigste Stunde in meinem Leben gewesen ist, würde ich ohne Zögern antworten: Das war die Stunde, in der die Sowjetmacht proklamiert wurde.“

Geboren wurde die berühmteste Frau der Russischen Revolution 1872 in gehobene Verhältnisse. Umgeben von Kindermädchen, Dienstboten, Kutschern und Köchen wuchs sie in einem Herrenhaus in Sankt Petersburg auf. Ihr Vater, General Michail Alexejewitsch Domontowitsch, stammte aus einer alten ukrainischen Grundbesitzerfamilie, Mutter Alexandra kam aus einer begüterten finnischen Sippe. Die Sommer verbrachte das Mädchen auf dem Gut ihrer Großeltern in Kuusa in Finnland, behütet und abgeschirmt.

Ein Leben im Wohlstand lag vor ihr

Privatlehrer unterrichteten die kleine Alexandra, die zu Hause „Schura“ genannt wurde. Später würde sie fließend Russisch, Finnisch, Franzöisch, Englisch und Deutsch sprechen. Vor dem Kind lag ein privilegiertes Leben im Wohlstand. Sie hätte einen Adligen heiraten können, so wie die Eltern es erwarteten. Schließlich hatten ihr Vater und ihre Mutter sie zu Tanzveranstaltungen, Bällen, Ausritten und Theaterbesuchen geschickt, sie auf eine Vermählung in den besten Kreisen vorbereitet. Statt in eine gute Partie verliebte sie sich aber 1891 in ihren Vetter Wladimir Kollontai, einen mittellosen Offizier, Sohn eines Polen. Die Eltern reagierten fassungslos, schickten Alexandra nach Paris, um das Paar wieder zu trennen. Doch die junge Frau setzte ihren Willen durch: 1893 heiratete sie Wladimir. Die Mutter nannte das Paar verächtlich „zwei Habenichtse“. 1894 brachte Alexandra Kollontai den Sohn Michail zur Welt.

Ein einschneidendes Erlebnis näherte Alexandra Kollontai dem Sozialismus an. Als ihren politischen Schlüsselmoment beschrieb sie den Besuch der Kreenholm-Textilfabrik im estnischen Narva 1896. Rund 12 000 Arbeiter schufteten dort unter unmenschlichen Bedingungen Tag und Nacht. Ihre Unterkünfte waren in entsetzlichem Zustand, geschlafen wurde auf Pritschen in einer vollgestopften, übel riechenden Halle ohne Privatsphäre. Kinder liefen verwahrlost zwischen den Bettreihen umher. Kollontai bemerkte einen Jungen im Alter ihres Sohnes, der seltsam still dalag. Er reagierte nicht, als sie ihn berührte. Er war tot. Niemand hatte bemerkt, dass er gestorben war. Alexandra Kollontai erlebte einen nachhaltigen Schock. Sie beschloss, sich mit aller Kraft für die Arbeiterklasse einzusetzen. Gleichzeitig sah sie voraus, dass das schnell wachsende Industrie-Proletariat die Elite der Zukunft stellen würde. Der Marxismus gab dem Aufstieg dieser Klasse zur Macht eine wissenschaftliche Basis. Es folgt eine unruhige Zeit für Kollontai. Sie trennt sich nach fünf Jahren von ihrem Gatten. „Nun war ich verheiratet. Ich liebte meinen schönen Mann und sagte jedermann ich sei ‚furchtbar glücklich‘. Und doch war mir, als würde mich dieses ‚Glück‘ irgendwie einzwängen. Ich aber wollte frei sein.“ Dafür verließ sie sogar ihren gerade vierjährigen Sohn: Michail blieb bei seinem Vater.

Kollontai ist radikal. Für die Revolution verlässt sie ihre Familie

Kollontai begann 1898 in Zürich ein Studium der Sozialökonomie und kam in Kontakt mit den Anhängern von Georgi W. Plechanow, dem theoretischen Begründer des russischen Marxismus, dessen Ideen die Studentin massiv beeindruckten. Ein Jahr später kehrte sie ohne Abschluss nach Sankt Petersburg zurück und unterstützte die im Untergrund agierende Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR). Sie organisierte Demonstrationen, verfasste Aufrufe und Artikel, arbeitete an einem Buch, reiste nach England und Frankreich. Kollontai verschrieb sich ganz dem „Befreiungskampf“. Die von Lenin mitgegründete SDAPR wurde zur richtungsweisenden Kraft innerhalb der revolutionären Bewegung. 1905 traf sie zum ersten Mal den zwei Jahre älteren Lenin – und war begeistert von dessen Charisma: „Das Gesicht eines Denkers, ein tief dringender, aufmerksamer Blick. Wen er auch ansah – immer spürte man, dass er ganz aufmerksam war. Lenin die Unwahrheit zu sagen war völlig unmöglich, er hätte das sofort gespürt (...). Seine Rede war aufs Höchste überzeugend (...), und seine Antworten fielen wie Hammerschläge nieder.“

Im Jahr 1908 sorgte Kollontai beim „Ersten Allrussischen Frauenkongress“ für Aufsehen. Sie plädierte für die Gleichberechtigung. Eine Provokation für die anwesende zaristische Polizei. Kollontai musste fluchtartig den Saal und sogar das Land verlassen, um nicht verhaftet zu werden. Sie ging ins Exil nach Deutschland, wo sie in den folgenden Jahren die führenden Personen der Arbeiterbewegung kennenlernte: August Bebel, Clara Zetkin, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Erst acht Jahre später sollte sie nach Russland zurückkehren. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs organisierte sie in Berlin Antikriegstreffen für Frauen, wurde verhaftet, wieder freigelassen und flüchtete nach Skandinavien. Von dort aus schloss sie sich 1915 den Bolschewiki an. Lenin sah in der international vernetzten jungen Frau die perfekte Vermittlerin seiner Ideen. Bereits aus seinem Schweizer Exil nahm er Kontakt zu ihr auf, begann einen intensiven Briefwechsel.

Keine Salon-Bolschewistin

In Lenins Auftrag reiste Kollontai vier Monate durch die USA, rastlos, bis an den Rand der Erschöpfung. Eine Notiz aus ihrem Tagebuch: „Dezember 1915: Im Zug zwischen Indianapolis und Louisville. Ich halte fast täglich Reden. Ich bin seit 62 Tagen in Amerika und ich habe 53-mal auf Veranstaltungen gesprochen. Manchmal kommt es mir vor, dass ich einfach kein Wort hervorbringen werde. Ich möchte flehentlich bitten – lasst mich in Frieden.“ Kollontai galt trotz ihrer begüterten Herkunft bei ihren Genossen nicht als Salon-Bolschewistin. Immer wieder wurden zwar ihre elegante Garderobe und die ausgefallenen Hüte erwähnt, dennoch gelang es ihr offenbar, volkstümlich und nahbar zu wirken. Mit ihren hitzigen Reden erreichte sie auch die einfachen Arbeiterinnen.

Im Zuge der Februarrevolution 1917 erfuhr sie in Norwegen vom Sturz des Zaren und kehrte so bald sie konnte nach Russland zurück, um sich als Agitatorin auf Lenins Linie gegen die provisorische bürgerliche Regierung zu engagieren und für die Rechte der Frauen einzutreten. Wieder wurde sie wegen Landes- verrat verhaftet, diesmal von der Polizei eben jener provisorischen Regierung.

“Wir bauen eine neue Welt auf”

Nach der Revolution und der Gründung der Sowjetrepublik am 7. November 1917 wurde sie als Volkskommissarin für Soziale Fürsorge ins Zentralkomitee berufen – sie ist damit die weltweit erste „Ministerin“ einer offiziellen Regierung. Ein Triumph! In ihrer neuen Funktion setzte sie sich für die Versorgung der Kriegsinvaliden ein, für Altersheime, Waisen- und Krankenhäuser. Sie gründete eine Zentrale für Mutterschafts- und Säuglingsfürsorge, wandelte alle Entbindungsanstalten in unentgeltliche Heime für Mutter- und Säuglingspflege um. Sie schien unermüdlich: „Nun ist sie da, diese Revolution. Wir bauen eine neue Welt auf. Mehr Mut, Kollontai! Was soll’s, wenn es in deinem Zimmer kalt ist und sich im Schrank vielleicht nicht einmal ein Stück Brot findet.“ Im Januar 1918 heiratete sie den Marinekommissar Pawel Dybenko, 17 Jahre jünger als sie.

Doch schon bald verließ sie die große Politik wieder. Im März 1918 legte Kollontai aus Protest gegen Lenins Friedensvertrag von Brest-Litowsk ihr politisches Amt nieder. Nun hielt sie Vorträge über die „neue Frau“ und die „neue Moral“. 1920 übernahm sie die Leitung der Frauenabteilung des Zentralkomitees und brachte ein Gesetz über die Nichtstrafbarkeit von Abtreibungen auf den Weg – zwar mit Lenins Zustimmung, doch unter heftigen Anfeindungen aus dem Volk und von den eigenen Parteigenossen.

Selbst Lenin gingen ihre Ideen der freien Liebe zu weit

Selbst ihrem Kampfgenossen Lenin ging Kollontai schließlich mit ihren Ideen von freier Liebe und sexueller Selbstbestimmung zu weit. Die beiden entzweiten sich. Kollontai warf Lenin die Entmündigung der Gewerkschaften und eine Bürokratisierung vor, durch die der Sowjetstaat zum Machtinstrument einer neuen privilegierten Oberschicht würde.

1922 schied sie im Zuge des Richtungsstreits zwischen Trotzki, Lenin und der Arbeiteropposition aus dem Amt als Leiterin der Frauenabteilung aus. In einem Brief an den Generalsekretär der Partei, der damals Josef W. Stalin hieß, bat sie um eine neue Aufgabe. Noch im selben Jahr wurde sie nach Norwegen geschickt, zuerst als Leiterin der Handelsvertretung in Oslo, dann als Politische Vertreterin der UdSSR: die erste weibliche Botschafterin der Welt. Für Kollontai ist das der Beginn einer 23-jährigen Diplomatenlaufbahn, die sie auch nach Mexiko und Schweden führen sollte.

Elegant repräsentierte sie den Arbeiter- und Bauernstaat, verhandelte mit Autorität, Charme und Geschick, um sowjetische Interessen zu vertreten, mit nüchternem Verstand und feinem Humor. In Schweden wurde sie 1930 nahezu wie eine Königin empfangen, wie ein Zeitzeuge berichtete: „Ihr Eintreffen in Stockholm als Abgesandte Russlands war eine Sensation. Das Publikum war sich sogleich dessen bewusst, dass die in Pelz gekleidete Dame, die in goldener Kutsche vorfuhr, eine der hervorragendsten Persönlichkeiten ihrer Zeit war.“

Aus der Ferne musste sie miterleben, wie Stalin 1930 die Frauenabteilung schloss und wie ihre Freunde – darunter auch Dybenko, von dem sie sich inzwischen geschieden hatte – Opfer des Stalin-Terrors wurden. Der Diktator ließ Hunderttausende Kommunisten ermorden. Kollontai war das einzige Mitglied der ersten bolschewistischen Regierung, das von den Repressionen verschont blieb. 1945 schied die 73-Jährige aus dem Dienst aus. Ihre letzten Jahre lebte sie zurückgezogen und von einem Schlaganfall halb gelähmt in einer Dreizimmerwohnung in Moskau. Sie starb kurz vor ihrem 80. Geburtstag am 9. März 1952. Weder das Zentralkomitee der KPdSU noch dessen Zentralorgan „Prawda“ hielten es für nötig, einen Nachruf auf sie zu veröffentlichen.

Erschienen in P.M. HISTORY

 
 

Mehr zum Thema ERINNERN