Herzensort GARTEN
Was zieht uns nur hinaus ins Grüne? Und warum fühlen wir uns zwischen Blättern und Blumen so friedlich gestimmt? Über den Zauber des eigenen Stücks Grün
Barfuß über taufrisches Gras laufen, das Schattenspiel der Blätter betrachten, während der würzige Duft von Lavendel in die Nase steigt und ein Kleiber trilliert. Die lebendige Schönheit eines Gartens raubt uns den Atem, lässt uns die Zeit vergessen. All unsere Sinne werden umgarnt, und mit kindlichem Staunen entdecken wir, wie intensiv eine selbst gepflückte Himbeere schmecken kann. Wie die Blüten des Fliederbuschs nach einem kurzen Sommerguss duften. Wie die Blätter rauschen, wenn der Wind hindurchfährt.
In den Garten statt zum Arzt: Laub harken für die Gesundheit
„Es ist die Summe der kleinen Momente, die uns glücklich macht und daran erinnert, dass wir am Leben sind“, sagt Andreas Niepel, der seit 30 Jahren als Gartentherapeut an der Klinik Holthausen für neurochirurgische und neurologische Rehabilitation arbeitet und dort Patienten mit Hirnfunktionsstörungen, Mobilitäts- einschränkungen und Gedächtnisproblemen betreut. Die Arbeit im Grünen gehört als fester Bestandteil zur Therapie. Zum einen geht es um das körperliche Training. Denn Gartenarbeit fördert nachweislich den Muskelaufbau, stärkt die Knochen, das Immunsystem und das Herz. Ob Unkraut jäten, Laub harken oder Kirschen pflücken, der Garten bietet ein abwechslungsreiches Krafttraining, das die Durchblutung fördert und das Risiko für Arterienverkalkung und Blutgerinnsel senkt. Einer Studie der Universität Arkansas/USA zufolge schützt Gartenarbeit auch vor Osteoporose: Frauen über 50, die mindestens einmal pro Woche im Garten werkeln, haben eine höhere Knochendichte als Gleich- altrige, die regelmäßig joggen, walken oder schwimmen. Die Patienten der Klinik Holthausen steigern auch noch ihre Gedächtnisleistung: Sie lernen die Arbeitsschritte und prägen sich die Namen der Pflanzen ein.
Schmutzig, aber glücklich: der Garten als Ausgleich zum Alltag
Mehr als um die positiven Effekte für die Gesundheit geht es passionierten Gärtnern wohl um die wohltuende Wirkung eines Gartens auf die Seele. „Jeder Mensch braucht einen noch unbelegten, zu gestaltenden Ort“, sagt Andreas Niepel. „Empowerment“ nennen Forscher das gute Gefühl der Selbstwirksamkeit. Klar, wer schon einmal selbst gezogene Tomaten geerntet oder eine struppige Hecke gekappt hat, spürt unbändigen Stolz über sein Werk. Deutlich zu sehen, was wir mit eigenen Händen schaffen können – dieses Gefühl geht im Job-Alltag, etwa vor einem Computer mit abstrakten Programmen, oft verloren.
„Gartenarbeit ist ein Gegenmodell zum Alltag. Aber wir müssen lernen, dass wir die Natur nicht steuern, sondern nur begleiten können“, so Niepel. Selbst wer kiloschwere Fachbücher liest, beste Standorte aussucht, täglich Unkraut zupft, um den perfekten Salatkopf zu ernten – all das ist vielleicht vergebens. Ein kühler Sommer, zu viel Regen oder eine fiese Nacktschnecken- plage können das sorgfältig vorbereitete Werk rigoros und rücksichtslos vernichten. Auch solche Frusterlebnisse seien heilsam, sagt Niepel: „Die Erkenntnis, dass höhere Mächte walten, auf die wir keinen Einfluss haben, kann entlastend wirken.“
Was für ein schöner Gegensatz zur Arbeitswelt, in der alles planbar, begründet und linear funktionieren muss. „Wir lernen zwangsläufig, das Unberechenbare zu akzeptieren“, bestätigt Niepel, der ein bisschen Demut gegenüber der Natur gar nicht verkehrt findet.
Lob der Arbeit: Blumenzwiebeln stecken und die Zeit vergessen
Dass wir trotz körperlicher Arbeit und möglichen Missernten so gern im Garten werkeln, liegt auch an der beruhigenden Monotonie der Tätigkeit. Wer, allein mit sich selbst, versunken und geduldig die Erde umgräbt, Blumenzwiebeln steckt oder Bärlauchsaat aussetzt, vergisst die Zeit und oft die Welt. „Ehrgeiz und Eitelkeit, Missgunst und Unzufriedenheit – alles fällt von uns ab“, schwärmt Charlotte Seeling, die in ihrem Buch „Frauen und ihre Gärten“ (Gerstenberg, 200 Seiten, 24,95 Euro) die weiblichen Aspekte der Arbeit im Grünen beleuchtet. „Fast immer ist die Freude an Blumen die Grundlage für einen Garten, manchmal aber
auch die Trauer um einen geliebten Menschen. Für alle jedoch ist der Garten ein Glück“, schreibt Seeling. Manche Gärtner schwören sogar, ein Nachmittag im Garten sei so erholsam wie eine Woche Wellnessurlaub.
Kuschelplätze, Duftoasen und Naschgärten: Romantik blüht auf
Auf Entspannung setzen auch die aktuellen Trends in der Gartengestaltung. „Cocooning im Grünen“ heißt das Schlagwort mit Outdoor-Möbel und Dekorationen, die jeden Ruheraum verschönern würden: Kissen, Teppiche und XXL-Sofas als Kuschelplätze für das grüne Wohnzimmer; Klangspiele, Feuerschalen und Springbrunnen für sinnliche Behaglichkeit.
In die gärtnerische Gestaltung kehrt die Romantik zurück, prognostizieren die „Gärtner von Eden“, ein Zusammenschluss von Gartengestaltern in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Architektonischer Purismus sei nicht mehr gefragt, stattdessen kaum gebändigte Natürlichkeit in Form von wuchernden Rosenranken, wilden Blumenwiesen und üppigen Duftoasen voller Lavendel, Flieder oder Jasmin.
Auch das Thema Nachhaltigkeit erobert die Gärten. Immer beliebter: Pflanzen regionaler Herkunft, die ohne lange Transporte ankommen und große Chancen auf prächtiges Gedeihen im heimischen Revier haben.
Erdbeeren, Bärlauch, Kresse: vom Glück der eigenen Ernte
Immer mehr Menschen wünschen sich inzwischen, dass ihr Garten nicht nur schön aussieht und verführerisch duftet, sondern sozusagen auch möglichst gut schmeckt. Neben den Naschgärten, die in den letzten Jahren zunehmend beliebter wurden, nehmen die Nutzgärten mehr Raum ein. „Gemüseanbau ist ein großer Trend, . Ganz klar steckt der Gedanke dahinter, etwas Gutes für sich selbst zu tun“, erklärt Gartentherapeut Niepel.
Das Selbstgezogene vermittelt ein Gefühl von Sicherheit: Ich weiß, woher es kommt und wie es gewachsen ist. Genuss mit gutem Gewissen. Mal abgesehen vom Stolz über die eigene Ernte: Nichts schmeckt besser als die eigene Erdbeere, frei von Dünger, dafür mit Leidenschaft gesät, gepflegt, gepflückt – und verspeist.