Unter den Toten von Oksbøl waren viele Säuglinge und Kinder.
Foto: Blåvandshuk Lokalhistoriske Arkiv
Wie 35000 deutsche Flüchtlinge fast inVergessenheit gerieten
Dort die weiß getünchte Kirche mit viereckigem Turm, hier die Post, da eine Bank und der Bahnhof, verbunden durch gerade Straßen. Ein lichter Ort in Jütland, etwa 3000 Einwohner. Ein beruhigendes Gefühl von Ordnung und Orientierung stellt sich ein. Man könnte nun von diesem Ort namens Oksbøl weiterfahren, etwa zum beliebten Vejers Strand. Oder man hält sich nordwestlich und stößt auf ein dicht bewachsenes Waldstück. In diesem Wald umrahmt ein Wall aus Feldsteinen die „Deutsche Kriegsgräberstätte Oksbøl“. 121 deutsche Soldaten und 1675 deutsche Flüchtlinge liegen hier in langen Reihen unter steinernen Kreuzen begraben. Auf einem der Kreuze steht:
Lothar Rutkowski, 22.9.45 † 8.11.45
Manfred Rutkowski, 22.9.45 † 12.11.45
Es müssen Zwillingsbrüder gewesen sein, die nicht mal zwei Monate alt wurden. Die hohe Zahl an verstorbenen Säuglingen und Kindern auf diesem Friedhof fällt auf. Dass an diesem Ort ein Flüchtlingslager für Deutsche existierte, war auch manchem Einwohner von Oksbøl nicht klar, denn fast alle Gebäude des Lagers wurden Ende der 1950er abgerissen. Spuren verschwanden. Bäume und Gebüsch wuchsen an der Stelle, wo bis zu 35.000 deutsche Flüchtlinge unter elenden Bedingungen in Baracken hausten, eng zusammen gepfercht, streng bewacht, umzäunt von Stacheldraht auf zehn Kilometern Länge. Kontakt zur Bevölkerung war nicht erwünscht. Weil es niemals die Absicht gab, diese Flüchtlinge in die dänische Gesellschaft zu integrieren. Ganz im Gegenteil. Besonders vermeiden wollte man Kontakte zwischen dänischen Männern und deutschen Frauen. Noch eine Dimension kommt hinzu: „Da war auch die Angst vor dem Nationalsozialismus. Hatten die Flüchtlinge in Dänemark den Bazillus in sich, der sich auf die dänische Bevölkerung übertragen konnte? Diese Frage spielte eine große Rolle, als die Deutschen hier ankamen“ erläutert der dänische Historiker John V. Jensen.
Damals ein umzäuntes Lager, heute ein modernes Museum
2022 wurde am Standort des ehemaligen Lagers das Museum „FLUGT“ eröffnet, das auch über die Geschichte der deutschen Flüchtlinge aufklärt. Ein Neubau aus Cortenstahl verbindet zwei ehemalige Lagergebäude in licht anmutender skandinavischer Architektur. Mit Film, Ton und Objekten soll das Schicksal von Flüchtlingen der vergangenen hundert Jahre bis heute greifbarer werden, ob aus der Ukraine, Vietnam, Afghanistan oder Syrien. Wie es sich anfühlt, die Heimat verlassen zu müssen, oft mit traumatischen Kriegserlebnissen, der Trennung von Angehören, auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft.
Die Schicksale der deutschen Flüchtlinge in Dänemark gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gerieten in Vergessenheit, nun rückt das Museum die Erinnerung an diese Jahre in die Öffentlichkeit. „Die Grundidee der Ausstellung besteht darin, Zahlen in Menschen zu verwandeln. Das erfordert ein Eintauchen. Von unserer Gästen hören wir oft, dass der Besuch eine starke und bewegende Erfahrung war, die zum Nachdenken angeregt hat“, so berichtet Majken Graver, Kommunikationsleiterin des Museumsverbands „Vardemuseerne“.
Etwa 250.000 Menschen, vor allem aus den Ostgebieten wie Pommern und Ostpreußen, flohen vor der sowjetischen Armee auf Schiffen über die Ostsee bis nach Dänemark, das damals vier Millionen Einwohner hatte. Die ersten Flüchtlinge legten am 9. Februar 1945 im Hafen von Kopenhagen an. Zunächst wurden die Deutschen in Krankenhäuser, Schulen, Fabriken, Gasthöfen oder Privatunterkünften untergebracht. Dänemark wurde am 5. Mai 1945 von Nazi-Deutschland befreit. Das Land wollte nach der Befreiung ebenso wie die deutschen Soldaten auch die deutschen Flüchtlinge zurück schicken. Das verhinderte die britische Besatzungsmacht jedoch, denn in Deutschland waren bereits sehr viele Flüchtlinge angekommen. Auch im angrenzenden Schleswig-Holstein war die Lage mehr als angespannt. 1946 lebten hier 2,6 Millionen Menschen - rund eine Million mehr als 1939. Ob Kleidung, Nahrung, Wohnraum: es herrschte Not und Mangel in jedem Bereich: „Der dänische Staat hat eine Aufgabe übernommen, die ihm auferlegt wurde, und musste sie erfüllen, so gut es eben ging“, resümiert John V. Jensen.
Hohe Zahl an Sterbefällen unter den Flüchtlingen aus Deutschland
Wie geht man mit Menschen aus dem Land um, das noch wenige Tage zuvor Dänemark besetzt hatte? Die dänischen Behörden internierten die deutschen Flüchtlinge in bewachten Lagern. Anfangs waren es etwa 100, später noch 36. Die wichtigsten Lager befanden sich bei Kopenhagen, Grove, Aalborg und Oksbøl – dies war das größte mit bis zu 36.000 Internierten. So wuchs das kleine Oksbøl zeitweise zum fünftgrößten Ort Dänemarks an. Im Barackenlager gab es eine Verwaltung mit Bürgermeister, Lagerpolizei, Schulen und einem Theater. Diese Strukturen sollten helfen, eine Art Normalität zu suggerieren. Doch viele Deutsche überlebten die ersten Monate in Dänemark gar nicht. Bis zur deutschen Kapitulation am 5. Mai 1945 verstarben nach offiziellen dänischen Angaben 6580 deutsche Flüchtlinge in Dänemark, darunter 4132 Kinder unter 15 Jahren. Die häufigsten Todesursachen: Unterernährung, Magen-Darm-Erkrankungen, Lungenentzündungen. Für den Zeitraum vom 6. Mai 1945 bis 31. Januar 1946 sind weitere 7161 Flüchtlingssterbefälle dokumentiert, darunter 3727 Kinder.
„Die deutschen Flüchtlinge spielten in den dänischen Geschichtsbüchern keine große Rolle. Als ob dieses Thema unter den Teppich gekehrt wäre. Dies ist nicht der Fall. Es haben sich nur nicht viele Menschen dafür interessiert. Dabei gibt es genug Material zur Auswertung. Wir werden noch viele Jahre an diesem Thema arbeiten können“, wertet John V. Jensen. Heute ist das Interesse an Oksbøl groß. Seit der Eröffnung am 1. Juli 2022 bis zum 30. Juni 2023 empfing das Museum 75389 Besucher. Ein schöner Erfolg. Mit einer Besonderheit: „Unsere Gäste bleiben sehr lange. Ein Besuch bei uns dauert durchschnittlich drei Stunden und dies ist eine deutlich längere Aufenthaltsdauer als ein Museumsbesuch im Allgemeinen“, führt Majken Graver aus. Es kommen Schulklassen, Touristen, die in der Umgebung Urlaub machen, Seniorengruppen, Familien, auch Tagungsgäste. Allein der Friedhof wird jährlich von tausenden Deutschen besucht, oft sind es Nachkommen der Familienangehörigen. Größtenteils kehrten die Flüchtlinge nach 1949 nach Deutschland zurück, einige blieben in Dänemark, viele kehrten auch immer wieder zurück, um einen Ort und ein Land erneut zu besuchen, in dem sie – in manchen Fällen – mehrere Jahre verbracht hatten.
„Oft besuchen uns Nachkommen, erzählen die Geschichte ihrer Familie oder bringen persönliche Gegenstände mit ins Museum. Darüber freuen wir uns unglaublich. Eine der Grundideen des Museums besteht ja darin, die Geschichte der Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg zu erzählen, die sowohl eine deutsche als auch eine dänische Geschichte ist. Es hat uns schon überrascht, wie wenig sowohl Dänen als auch Deutsche über diese Geschichte wissen, die immerhin 250.000 Flüchtlinge betraf und damit seither Teil der Geschichte vieler deutscher Familien ist. Es bestätigt, wie wichtig es ist, die Geschichte zu erzählen. Und wie aktuell das Thema bleibt“, so Majken Graver
Nach Schätzungen der UNO-Flüchtlingshilfe sind derzeit weltweit etwa 108 Millionen Menschen auf der Flucht.
INFORMATION
FLUGT - Refugee Museum of Denmark