WER IST DENN HIER DER BOSS?

Die wenigsten Eltern lassen sich gerne in die Erziehung ihres Nachwuchses reinquatschen. Ist ja sehr persönlich. Genau deshalb habe ich andere um Rat gefragt

“Es ist mein Leben, ich bestimme!“ Kein Satz aus einem Hollywood- Drama, sondern raue Realität an einem Wintermorgen. Es geht auch nicht um die Befreiung aus jahrelanger Unterdrückung (oder vielleicht doch?), sondern um Schuhe. Um richtige und falsche Schuhe. Mats, sechs Jahre alt, sitzt sauer auf der Fußmatte und schaut mich glühend an. Die fellgefütterten Lederboots hat er gegen die Wand gedonnert. Er will ausgetretene Stoffsneaker anziehen. Bei Minusgraden und Schnee. Kriegszustand, und es ist noch nicht mal 7 Uhr. Ich könnte nun mit den üblichen Elternmethoden kommen: strenge Ansage. Androhung von Sanktionen. Beschwichtigung. Bestechung. Wutanfall. Alles probiert, nichts half. „Es ist mein Leben“, wiederholt er leise, nun den Tränen nahe. Zu viel Pathos für mich. Ich gebe nach. Die Zeit drängt, wir müssen zur Schule, meine Laune ist unter null. Heimlich stecke ich ihm die Fellschuhe in den Turnbeutel und verbuche das als Triumph. Verfluche mich. Eine fiese Stimme im Hinterkopf flüstert: „Wer ist denn hier der Boss? Der tanzt dir auf der Nase rum. Du willst eine gute Mutter sein? Vergiss es, kannst du nicht.“ Doch. Will ich, kann ich. Nur nicht immer.

“Schick ihn mal zwei Wochen zu mir”, bietet mein Bruder an

Im Geist habe ich eine Idealvorstellung von mir als Mutter. Resolut und klar, entspannt und liebevoll. Nur den letzten Punkt erfülle ich. Geht das besser? Das will ich rausfinden und hole mir Rat. „Schick ihn mal zwei Wochen zu mir. Ich mache einen Mann aus ihm“, sagt mein Bruder am Telefon. Ich schaue Mats an, der mit seinem Eisbär-Kuscheltier im Arm grad so unschuldig aussieht wie ein Welpe. Einen Kerl aus ihm machen? Noch mehr Testosteron rauskitzeln? Och nö. Mir reicht das jetzige Level, das Toben, Springen, Klettern. Müsste er nicht eher mal runterkommen, wäre Yoga was? Und vielleicht ist die Familie auch nicht der beste Ratgeber. Wir Geschwister wurden autoritär erzogen, vielleicht scheue ich daher den straffen Umgang mit meinem Sohn. Bloß alles anders machen als die eigenen Eltern. „War früher nicht alles viel strenger? Als Kind hatte ich ständig Angst, was falsch zu machen. Und nun züchte ich einen verwöhnten Pascha ran“, schnappe ich zufällig im Schwimmbad auf. Leises Lächeln bei mir, weil andere Mütter sich ähnliche Fragen stellen. Weil sich die Erziehungsideale geändert haben und feste Kriterien fehlen? Weil es zu viele Meinungen, Stimmen, Ansichten gibt? Jedenfalls kann ich mich zwischen rosafarbenen „Mami kocht“-Blogs, Helikoptereltern-Bashing oder dem straighten Tiger Parenting nirgendwo wiederfinden. Auch meine Freundinnen erziehen unterschiedlich: die eine mit Belohnungspunkten am Whiteboard, die andere nach chronologischem Prinzip („Erst aufräumen, dann spielen“) oder Laissez-Faire: „Mein Kind weiß selbst, wann es müde ist.“ Die Palette an Methoden: unendlich.

„DIE INUIT WAREN GROßARTIGE ELTERN. Ihre Kinder kamen immer zu spät zur Schule, weil die Eltern sie ausschlafen ließen. Sie glaubten, dass im Schlaf die Seele auf Reisen geht“, erzählt meine Nachbarin Helene, 85 Jahre alt, vier Kinder, sechs Enkel. Sie war Lehrerin und hat in den 1960er-Jahren in Grönland unterrichtet. Mehr Lebens- und Erziehungserfahrung kann ich mir nicht vorstellen. Beim Tee reden wir über die Frage, was eine „gute Mutter“ ausmacht. Erstaunlich, dass eine Lehrerin sich auf die Seite von ausgeschlafenen Kindern schlägt. Noch erstaunlicher, dass Helene sagt: „Ich war keine gute Mutter. Ich habe die Kinder zu viel allein gelassen.“ Sie und ihr Mann wollten die Welt entdecken, waren wochenlang unterwegs und ließen die Kleinen bei Kindermädchen. „Das Wichtigste ist, dass du Zeit mit deinem Kind verbringst, und das tust du ja“, sagt Helene. Ich bin dankbar für die Ehrlichkeit und beruhigt. Helenes Kinder wirken nämlich gar nicht vernachlässigt, sondern entspannt, weltoffen, liebevoll. Erziehung ist gar nicht so schwer, denke ich.

Bis zum nächsten Morgen. Beim Frühstück kippelt Mats. Er isst nicht, sondern baut mit dem Besteck eine Brückenanlage über der Müslischale. Schlürft Tee aus der Trillerpfeife, stapelt Joghurtbecher zum Eiffelturm. Feilt weiter an seiner Kunst, nichts so zu tun, wie man es soll. Er schafft es auch, Schuhe anzuziehen, ohne die Hände zu benutzen oder sich zu bücken. Dauert ewig, Geduldsprobe für meine Nerven. „Du bist die beste Mami der Welt und des ganzen Weltalls. Allerbest, wirklich.“ Mats umarmt mein Knie, als sei das der Olymp, und schaut lieb von unten. Verdammter Charmebolzen. Wenn er nur weniger eigensinnig wäre. Letzte Woche hat er bei einem Freund übernachtet, der 800 Meter entfernt wohnt. Morgens um sieben rumpelte er gegen unsere Haustür. Im Schlafanzug, in Gummistiefeln, sein Laserschwert in der Hand. Hatte sich allein auf den Weg gemacht, ohne jemandem Bescheid zu sagen. „Ich muss jetzt unbedingt frühstücken“, seine Begründung.

Erziehung ist gar nicht so schwer, denke ich. Also: bis zum nächsten Morgen

Zeit für einen fachlich-neutralen Rat. Ich suche eine Familienberatungsstelle der Diakonie heraus. Bin begeistert, dass ich kurzfristig einen Termin bekomme. Der Therapeut und Psychologe Manuel Mayer lacht herzlich, als ich ihm die Ausreiß- Episode erzähle: „Das ist kompetentes Verhalten. Der Junge hatte ein Ziel, er kennt den Weg, er geht ihn, er kann das.“ Ich solle stolz sein statt verunsichert. Das ist nun eine ganz neue Sichtweise. Habe ich den Zwerg unterschätzt?

ICH SCHLAGE BEI JESPER JUUL, dem dänischen Ratgeber-Bestsellerautor, nach. Vor Jahren mal flüchtig gelesen, krame ich ihn wieder raus und bleibe beim Blättern am Wort „Büfett“ hängen. Eine Kindergärtnerin von Mats hatte ihn im Alter von eins als „Büfettmenschen“ bezeichnet. Fand ich damals lustig, ohne nachzudenken. Bei Juul kommt Büfett im Kapitel über „Autonome Kinder“ vor. Denn die Büfettmentalität reiche weit in die Wesensstruktur hinein, sie übertrage sich vom Essen auf das ganze Leben. Autonome Kinder wollen selbst entscheiden, brauchen Wahlmöglichkeiten, weil sie selbstbestimmt handeln wollen. „Sie benehmen sich wie reife Erwachsene mit einem ausgeprägten Selbstbild. Grenzen zu setzen ist bei diesen Kindern das Schlimmste, was man tun kann.“ Ich lese mich fest, erkenne fast alle Dinge wieder. Etwa, dass diese Kinder Manipulationsversuche Erwachsener sofort durchschauen. Wie oft habe ich Mats erbärmlicherweise mit Süßigkeiten bestechen wollen, und er hat ehrenhaft ausgeschlagen? Bei der Suche nach Rat merke ich, dass ich Tipps automatisch filtere. Ich sortiere aus: „Ein Klaps schadet nicht“ genauso wie „Er braucht mehr Lob“. Was nicht zu uns passt, kommt weg. Allein die Beschäftigung mit fremden Meinungen schärft das eigene Profil. Hängen bleibe ich auf dem Thema „Zeit miteinander verbringen“ von Helene und übersetze das in: wirklich mit ihm zu spielen, statt nebenbei zu tippen oder in Magazinen zu blättern. Komplexer ist die neue Sicht auf ein kompetentes und offenbar autonomes Kind. Und hier beginnt ein weiteres Experiment für mich – und für Mats. Ich probiere mit Wahlfreiheiten herum, lasse ihn mehr entscheiden: Käsebrot oder Spiegelei? Schwimmbad oder Eisbahn? Laufen oder Radfahren? Plane Zeitpuffer ein, fördere eigenständiges Handeln. Wir sind einander nicht immer sofort einig, verhandeln, argumentieren, begründen. Ist erst mal anstrengend, doch es wirkt: Mats spurt, schnurrt, wirkt zufriedener. Jesper Juul schreibt, dass autonome Kinder sich im ständigen Konflikt zwischen den „Bedürfnissen nach Zusammengehörigkeit und Unabhängigkeit“ befinden. Noch so ein Aha-Moment, denn das Nebeneinander von großer Kuscheligkeit und dem Beharren auf Eigenständigkeit hatte mich auch irritiert. Jetzt kapiere ich das besser. Er muss nun weniger rebellieren, ich suche nicht mehr nach dem objektiven „Falsch“ oder „Richtig“, sondern schaue auf das Kind. Und mich. Ich sag mal: Es ist mein (Mami-)Leben, und ich bestimme selbst.

Erschienen in BARBARA

 
 

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