SOFJA KOWALEWSKAJA
Ihre Leidenschaft galt den Zahlen – nichts, womit Damen sich damals beschäftigen sollten. Umso mehr setzte sich die Moskauerin für das Recht aller Frauen auf Bildung ein. 1884 wurde sie die erste Mathematikprofessorin überhaupt – und feierte auch als Literatin Erfolge
Eine Frau als Mathematikprofessor, das sei eine „schädliche und unangenehme Erscheinung“. Man könne sie „sogar ein Scheusal nennen“, giftet der schwedische Star-Schriftsteller August Strindberg in einer Zeitung. Gemeint ist Sofja Kowalewskaja, die am 30. Januar 1884 ihre erste Vorlesung an der Universität Stockholm hält. Damit ist sie weltweit die erste lehrende Professorin für Mathematik. Eine Sensation. Und für viele stellt sie eine Provokation dar. Da steht nicht nur eine Frau im Hörsaal, sondern sie erdreistet sich auch noch, in einer klassischen Männerdomäne zu lehren. Und als wäre das nicht unerhört genug, wird sie später noch Werbung in eigener Sache machen und ihre Autobiografie veröffentlichen – erfolgreich! Sie reist durch Europa, setzt sich für Gleichberechtigung ein, ist verheiratet und getrennt lebend, später verwitwet und alleinerziehend. Eine Frau, deren Durchsetzungswillen ihre Zeit verstört. Und eine Doppelbegabung, wie sie in allen Epochen selten ist. Am 15. Januar 1850 wird sie als Sofja Wassiljewna Korwin-Krukowskaja in Moskau geboren. Ihr Vater, ein Offizier im Dienst des Zaren, zieht acht Jahre später mit Frau und drei Kindern auf das Landgut Palibino in der russischen Oblast Pskow. Standesgemäß unterrichten Hauslehrer die Kinder. Doch das Interesse für Mathematik beginnt bei Sofja ungewöhnlich: Als beim Renovieren die Tapeten knapp werden, beklebt man die Wände des Kinderzimmers mit lithografierten Differenzial- und Integralrechnungen – das Skript einer Vorlesung, die ihr Vater als Student hörte und das nun auf dem Dachboden liegt. Die Bögen mit den bunten Formeln ziehen Sofja magisch an: „Ich stand als Kind stundenlang vor dieser geheimnisvollen Wand und bemühte mich, zumindest einzelne Sätze zu entziffern und die Ordnung herauszufinden. … Vom täglichen langen Beobachten prägte sich meinem Gedächtnis das äußere Bild vieler Formeln ein, selbst der Text hinterließ in meinem Gehirn eine tiefe Spur, obgleich ich ihn beim Lesen nicht verstand“, schreibt sie in ihren „Jugenderinnerungen“.
Flucht ins Ausland
Mit ihrer Schwester Anjuta träumt sie von einem selbstbestimmten Leben in St. Petersburg, zu jener Zeit ein Schmelztiegel der Studenten, Kreativen, Intellektuellen. Sofja setzt durch, dass sie dort privaten Mathematikunterricht nehmen darf. Durch ihren Lehrer Alexander Nikolaiwitsch Strannoljubski kommt sie mit nihilistischen Kreisen in Kontakt. Eine Bewegung, die sich seit den 1860er-Jahren in Russland unter anderem für die Gleichheit von Mann und Frau sowie das Recht auf Bildung einsetzt. Ein Studium war für Frauen in Russland verboten, ein Umzug ins Ausland für eine universitäre Bildung nur mit Erlaubnis der Eltern oder des Ehemanns möglich. Der Student Wladimir Kowalewski ist bereit, sie 1868 zu heiraten. Beide ziehen erst nach Wien, dann nach Heidelberg, wo Sofja zumindest als Gasthörerin an der Universität zugelassen wird. Auf Anraten ihrer Lehrer sucht sie 1870 in Berlin den damals bedeutsamsten deutschen Mathematiker Karl Weierstraß auf. Der wimmelt sie zunächst mit einem Bündel kniffliger Aufgaben ab, wie er es in aussichtslosen Fällen immer tut. Doch Kowalewskaja kommt wieder – mit richtigen, originellen Lösungen. Fortan unterrichtet Weierstraß die Russin. Durch sein intensives Hinwirken erhält sie an der Universität Göttingen die Zulassung zur Promotion. Die 24-Jährige reicht gleich drei Arbeiten ein – und schließt mit summa cum laude ab. Keine Universität jedoch will eine Dozentin. Sofja kehrt mit Wladimir nach St. Petersburg zurück. Ihre Beziehung wird enger. Aus Geldnot verstrickt sich das Paar in Immobilienspekulationen. Es beteiligt sich der Gründung der Höheren Frauenkurse, doch Sofja darf nicht dozieren. Möglich wäre nur eine Stelle als Lehrerin für die untersten Klassen einer Mädchenschule, aber „unglücklicherweise bin ich nicht besonders gut im kleinen Einmaleins“, schreibt sie lakonisch. 1878 kommt die gemeinsame Tochter Sofja, genannt Fufa, auf die Welt. Zwei Jahre später wird der Besitz der Eheleute versteigert.
Sofja wendet sich wieder der Mathematik zu, ihrem Anker in unruhigen Zeiten. 1880 hält sie auf dem 6. Kongress der Naturforscher und Ärzte in St. Petersburg einen Vortrag über ihre dritte Dissertation. Im Publikum sitzt der schwedische Mathematiker Gösta Mittag-Leffler, ein ehemaliger Schüler von Weierstraß. Er ist beeindruckt von Kowalewskajas Arbeit über partielle Differenzialgleichungen, die auch in der Physik, der Mechanik und der Astronomie Anwendung finden. Kowalewskaja trennt sich von Wladimir. Sein Selbstmord zwei Jahre später, im April 1883, ist ein Schock für Sofja, den sie mit intensiver Forschungsarbeit zu kompensieren versucht. Im August liest sie auf dem 7. Kongress der Naturforscher und Ärzte aus ihrer Arbeit über die Doppelbrechung des Lichts. Jetzt bietet Gösta Mittag-Leffler ihr den Posten als Privatdozentin an der neu gegründeten Hochschule in Stockholm an. Erstmal ohne Gehalt, denn nur so kann er den konservativen Akademikerkreisen die Berufung einer Frau begründen. Schweden ist nicht Kowalewskajas Wunschland, doch ihre einzige Option. Im November 1883 kommt sie in Stockholm an und wird als „Fürstin der Wissenschaft“ gefeiert. Ihre erste Vorlesung, die sie beinahe auswendig auf Deutsch hält, sei fast „zu gut“ gewesen, wie Mittag-Leffler bemerkt.
Liebe zur Literatur
Das Lehren allein genügt ihr nicht. Mathematik ist für Kowalewskaja „eine Wissenschaft, die die größte Phantasie verlangt“. Sie zieht Vergleiche zur literarischen Arbeit: „Mir scheint dagegen, dass der Dichter sehen muss, was andere nicht sehen, dass er tiefer sehen muss als andere Leute. Und der Mathematiker muss dasselbe tun.“ Gemeinsam mit Anne Charlotte Leffler, der Schwester von Mittag-Leffler, arbeitet sie neben ihrer Lehrtätigkeit literarisch an einem Drama. Scheinbar mühelos vereint sie ihre musische Seite mit dem analytischen Denken einer Wissenschaftlerin. Diese Kombination wird später die Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro zu der Erzählung „Zu viel Glück“ inspirieren, in der sie den komplexen Charakter der Kowalewskaja ausleuchtet. Für ihre Darstellung von Lösungsfunktionen über die Bewegung eines starren Körpers um einen festen Punkt erhält die 38-Jährige den Prix Bordin der Französischen Akademie der Wissenschaft. Ihre Theorie ist heute noch als „Kowalewskaja-Kreisel“ relevant. Doch selbst danach bleibt ihr eine Stelle als einfache Lehrerin in ihrem Wunschland Frankreich versagt. Immerhin erhält sie 1889 in Stockholm die Professur auf Lebenszeit. Im gleichen Jahr erscheinen ihre „Jugenderinnerungen“. Den Winter 1890/91 verbringt sie mit ihrem Freund Maxim Maximowitsch Kowalewski in Südfrankreich, bald wollen sie heiraten. Auf der Rückreise zieht sie sich eine Erkältung zu, die sich rasant verschlimmert. Direkt nach Ankunft in Stockholm hält Sofja Kowalewskaja am 4. Februar noch eine Vorlesung, besucht abends eine Feier und steht am nächsten Morgen nicht mehr auf. Am 10. Februar 1891 stirbt sie mit 41 Jahren an einer Lungenentzündung.