Von Monika Dittombée
DAS GENIALE PHANTOM
Seine Epen prägten das Abendland, doch über ihn selbst ist kaum etwas bekannt: Homer. Wer war der Dichter – und gab es ihn überhaupt? Eine Ermittlung.
Vielleicht sitzt er, der Göttliche, irgendwo oben, auf einem mythischen Hügel, so wie Zeus auf den Bergen der Ida. Schaut auf uns herab, beobachtet unsere Versuche, sein Werk zu deuten, sein Genie zu fassen. Hat er doch mit seinen beiden Epen, der blutigen „Ilias“ und der bewegenden „Odyssee“, mit einem Paukenschlag die abendländische Literatur begründet. So viele Fragen wollen wir ihm stellen: Wann lebte er? Wie lange hat er gebraucht, um seine Epen zu dichten? War er reich? Wen hat er geliebt? Trank er Wein – und wenn ja, wie viel? Wie klang seine Stimme? Und war er wirklich blind, wie es eine Legende behauptet? Er, dessen Werk bis ins Detail ausgeleuchtet wurde, bleibt selbst im Dunkel der Geschichte. „Wer auch immer Homers Person zu fassen suchte, hat schließlich doch nur einen zerrinnenden Schatten umarmt“, so fasste es der Philologe und Homer-Übersetzer Erich Bethe 1935 resigniert zusammen. Wir wissen wenig über ihn – doch gerade das feuert die Fantasie seit Jahrtausenden an. Die Homerische Frage – also welcher Autor oder womöglich gar Autoren sich hinter der „Ilias“ und „Odyssee“ verbergen – beschäftigt bis heute Philologen, Archäologen, Historiker und wohl auch jeden Leser seiner Epen. Warum? Weil in diesen Werken das Denken und Fühlen der damaligen Menschen so greifbar wird. Weil wir erkennen, dass sich die alten Griechen gar nicht so sehr von uns unterschieden, in der Liebe und im Hass, in Momenten der Stärke und der Schwäche, in fröhlichen und in dramatischen Stunden. Wie erbittert etwa der heldenmütige Odysseus um sein Recht auf ein glückliches Leben kämpft! Er ist zwar edel, aber auch hochmütig, verführbar, zwiespältig – moralisch ganz und gar nicht einwandfrei, dafür umso menschlicher. Sein gleichnishaftes Schicksal lässt sich auf heute übertragen: wie er in der „Odyssee“ von Insel zu Insel irrt, von einer Hoffnung zur nächsten, von Hindernis zu Hindernis. Bis heute hält die „Homeromanie“ an, diese Liebe zum unbekannten Wesen, über dessen Leben es nur fragwürdige Legenden gibt und dessen Werke kaum Hinweise auf seine Biografie liefern. Wie nähert man sich Phantomen? Über Indizien. Fangen wir an mit der Detektivarbeit.
Die Tat
Allein schon vom Umfang her sind es gewaltige Werke: Die „Ilias“ besteht aus 15 693 Versen, die „Odyssee“ aus weiteren 12 110, jeweils unterteilt in 24 Gesänge. Auch die Form macht ehrfürchtig: Die Epen sind durchgehend im Versmaß Hexameter gedichtet. Leider sind die Originalmanuskripte nicht erhalten: Die ältesten Fragmente stammen von 300 v. Chr., vollständige Abschriften erst aus dem Mittelalter.
Der Tathintergrund
Wie alles begann. Ja, gute Frage. Zu Zeiten, als das übrige Europa größtenteils noch mit düsteren Urwäldern bedeckt war, durch die wilde Tierhorden streiften, und die Menschen überwiegend als Nomaden überlebten, setzte in Griechenland im 8. Jahrhundert vor Christus eine kulturelle Blüte ein. Die ersten Olympischen Spiele fanden im Jahr 776 v. Chr. statt, ungefähr in diesen Zeitraum fällt auch die Ausbreitung der Schrift. „Wer nun von allen Tänzern am anmutigsten tanzt und spielt, der möge (diesen Krug erhalten)“, lautet die Inschrift der Dipylon-Kanne aus der Zeit um 740 v. Chr., die mutmaßlich älteste Inschrift im griechischen Alphabet, wie Homers Werke auch im Hexameter verfasst. Tanz, Musik und vermutlich Wein in der Kanne: Bereits in dieser kurzen Zeile erscheinen die Motive, wie wir uns eine frühe griechische Kultur in jener Zeit vorstellen mögen. Diese Aoiden, sie können also durchaus als die Bewahrer eines kulturellen Gedächtnisses gelten. War Homer möglicherweise selbst einer von ihnen?
Tatzeitraum
Der Name Hómēros und die Epen dürften schon vor 600 v. Chr. bekannt gewesen sein. Um 523/522 v. Chr. wurde bei den Festen der Großen Panathenäen die „Ilias“ und „Odyssee“ vollständig rezitiert; die Epen müssen also zu diesem Zeitpunkt schon schriftlich fixiert gewesen sein, denn allein die „Ilias“ mit ihren 15 693 Versen kann sich selbst der begabteste Sänger unmöglich merken. Auch die Hinweise auf eine Person namens Homer häufen sich in diesem Zeitraum. So formuliert der Denker Xenophanes von Kolophon um 500 v. Chr. den geflügelten Satz „… da ja von Anbeginn nach dem Homeros gelernt haben alle …“. Ein Beleg, dass Homer in jedem Fall früher gelebt haben muss als Xenophanes und bereits eine Weile ehrfürchtig bewundert wurde. Auch der Philosoph Heraklit von Ephesus (545–480 v. Chr.) huldigt dem Meister: „… so wie Homer, der von allen Hellenen der klügste war.“ Wieder der Verweis auf ein „vorher“. Die aktuelle Forschung grenzt den Lebenszeitraum von Homer daher zwischen 750 und 650 v. Chr. ein. Somit trat Homer zu einem günstigen Zeitpunkt der Geschichte in Erscheinung, am Ende von Griechenlands „Dunklem Zeitalter“: Aus der Zeit zwischen dem 12. und dem 8. Jahrhundert v. Chr. sind keine Schriftstücke überliefert, also genau aus jener Epoche zwischen dem angeblichen Trojanischen Krieg und dem Wirken des Dichters Homer. Er steht damit genau an der Wasserscheide zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung.
Ein Täter oder mehrere?
Die anglo-amerikanisch geprägte Oral-Poetry-Forschung geht nicht von einem konkreten Dichter aus. Der Name Homer sei vielmehr ein Sammelbegriff für verschiedene Personen, welche die alten mündlichen Sagen schriftlich festhielten. Die homerischen Epen also „nur“ ein Konglomerat, ein Endprodukt vieler namenloser Sänger? Die aktuelle deutsche Forschung setzt mehrheitlich auf nur einen Verfasser. Für diese Annahme spricht, dass jener Hómēros in antiken Quellen durchweg als Eigenname wie jeder andere (etwa die Namen der Dichter Hesiodos oder Archilochos) verwendet wird. Sehr wahrscheinlich schöpfte Homer aus den alten Gesängen, übernahm den Sagenstoff und verarbeitete die Textpassagen in seinem Werk. Auch literaturwissenschaftliche Analysen deuten auf einen Einzeltäter hin, schon wegen der hohen Kunst der Komposition, der subtilen Charakterzeichnung und der sprachlichen Qualität. Viele Homers? Unwahrscheinlich. Viele namenlose Helfer bei der jahrhundertelangen Vorbereitung? Unbedingt.
Phantombild
Der Reiseschriftsteller Pausanias erwähnte ein Bildnis Homers im Zeustempel in Olympia, vermutlich war dies die älteste Darstellung Homers. Möglicherweise beziehen sich alle folgenden Bildnisse auf diesen Urtyp aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., auch die Büsten aus römischer Zeit. Berühmt ist unter ihnen der „Epimenides-Typus“ (auch Blinden-Typus genannt): Man sieht einen würdevollen Greis mit einer zerfurchten hohen Stirn, geschlossenen Augen, langem Bart und kunstvoller Frisur. Die Haare fallen lang und lockig an den Seiten und am Hinterkopf ab, ein Stirnband hält die Mähne zurück. Ein gepflegter alter Mann, voller Ruhe und mit starker Präsenz. Da selbst die früheste Büste weit nach dem Tode Homers entstand, ist es unwahrscheinlich, dass sie reale Gesichtszüge zeigte. Umso mehr, da sein Aussehen in der Plastik einem Ideal entspricht, das mehr über sein Ansehen als über seine wahre Pyhsiognomie verrät. Dass Homer immer im fortgeschrittenen Alter gezeigt wird, deutet symbolisch auf einen weisen und lebensklugen Charakter hin. Eine besondere Darstellung Homers soll der griechische Maler Galaton geschaffen haben, eigenwillig verarbeitete er seinen Respekt vor dem großen Genie: Er malte Homer sich erbrechend, im Kreise anderer Poeten, die aus seinem Erbrochenen schöpfen. Von einem solchen Gemälde berichtete zumindest der römische Autor Älian in seiner „ Varia historia“.
Ein Sehender
Einer Legende zufolge war Homer blind. Entsprechend zeigen ihn die berühmten Büsten mit geschlossenen Augen. Goethe betrachtete 1774 die neapolitanische Kopie dieser Homer-Büste: „Der Mann sieht nicht, hört nicht, fragt nicht, strebt nicht, wirkt nicht“, was leicht desillusioniert klingt. Doch dann jubelt er fast: „Es ist Homer! Dies ist der Schädel, in dem die ungeheuren Götter und Helden so viel Raum haben als im weiten Himmel und der gränzlosen Erde.“ Allerdings: Die frühesten Quellen für Homer berichten nicht von einer Blindheit. Heraklit präsentiert Hómēros sogar als einzigartig Scharfsichtigen. Der Philosoph Proklos (412-485 n. Chr.) geht auf die Legende der Blindheit ein, indem er konstatiert: Nicht Homer sei blind gewesen, sondern diejenigen seien blind im Geist, die ihn für blind erklärt hätten. Kein Mensch habe je so viel gesehen wie Homer. Die Vorstellung des blinden Homer folgt einer Tradition, nach der göttlich inspirierte Dichter und Seher blind waren, damit die Visionen vor ihrem inneren Auge umso klarer Gestalt annehmen konnten. Homer selbst erzählt in der „Odyssee“ vom Sänger Demodokos, dem die Muse die Augen nahm. Die Blindheit, die Homer zugeschrieben wird, kann also als Metapher für einen Allwissenden gelten, der statt des Sichtbaren eben vor allem das Verborgene, das Geheimnisvolle, Unsichtbare wahrnimmt. Wem diese Interpretation zu mystisch erscheint, kann im Werk nachlesen und vielleicht zustimmen: „Nach Ausweis seiner bis ins kleinste Detail differenzierenden, von praller Visualität strotzenden Dichtung kann der Dichter nicht blind gewesen sein“, konstatiert Joachim Latacz. Also: Schenkt Homer das Augenlicht zurück!
Rätselhafte Herkunft
War Homer arm? Homer als armer, unehelich geborener, fahrender Sänger – dieses Bild setzte sich über Jahrhunderte fest. Ihren Ursprung findet es in der Homer-Biografie „Vita Homeri Herodotea“, geschrieben im 1. oder 2. Jahrhundert, doch sie gilt als nicht besonders zuverlässig. Neun historische Dokumente beschäftigen sich mit der „Vita“ Homers, taugen aber alle eher als abenteuerliche Legendensammlung: Mal stammt er direkt von Apollon ab, mal soll der Fluss Meles sein Vater sein. Mehrere Quellen sind sich immerhin einig, dass Homers Mutter Kreitheïs hieß. Manchen zufolge hatte Homer Frau und Töchter, mal arbeitete er als Volksschullehrer, mal als Bettelsänger. Was stimmt? Schließt man vom sprachlichen Werk auf den Autor, offenbart sich in den Epen eine souveräne Vertrautheit mit Umgangsformen, Denkweise und Sprache einer Oberschicht. Ironie und doppelbödiges Reden inbegriffen. Auch die Atmosphäre – von den Kulissen und der Beschreibung von Einzelheiten bis zum erhabenen Duktus der handelnden Personen – fühlt sich aristokratisch an. Homer muss eine umfassende Bildung genossen haben, wohl in aristokratischem Umfeld, oder er gehörte selbst der Elite an. Das wäre nicht ungewöhnlich: Auch die Dichterin Sappho entstammte der Oberschicht, genau wie die Lyriker Alkaios oder Archilochos. Klar wäre ein „armer Sänger“ romantischer für unsere Vorstellung, aber das Werk spricht eine andere Sprache.
Die Tatorte
Als engerer Lebensraum Homers gilt die kleinasiatische Küste mit den vorgelagerten Inseln Chios, Samos, Ikaria, besonders aber der nördliche Teil von Phokaia bis Ephesos. Als Geburtsort wird in acht der neun überlieferten Schriftquellen Smyrna genannt, das heutige Izmir in der Türkei (siehe Karte Seite 54). In ebenfalls acht Viten stirbt der Dichter auf der Kykladeninsel Ios. Auch anhand der Sprache des Werkes lässt sich Homer lokalisieren: Die Mischung aus Ostionisch mit äolischem Einschlag war als Dialekt im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. in Smyrna, Chios und Umgebung gängig. In manchen Textstellen nennt der Dichter tatsächlich existierende Landschaften und Orte, etwa Pylos, Sparta, Thrakien, Kap Malea, Kythera oder Ithaka. Andere Passagen lassen persönliche Ortskenntnisse des Autors vermuten, wenn er mit botanischen, topografischen oder zoologischen Details glänzt. Sehr wahrscheinlich war der Dichter viel auf Reisen. Sie könnten ihn in nördliche Richtung über Kyme in die Troas – Kampfplatz des Trojanischen Krieges – geführt haben, weiter südlich nach Lydien und Karien und eventuell nach Lykien. Er könnte sich auch auf den Inseln Kos, Rhodos und Zypern aufgehalten haben, möglicherweise als Gast der jeweiligen Herrscherfamilie. Verwirrend? Ja, das ist so. Auch Proklos versuchte, Homers Stationen zu benennen, er kapitulierte und bezeichnet ihn letztendlich einfach als „Kosmopoliten“, was keine Himmelsrichtung mehr ausschließt. Das Täterprofil Homer hat ein bombastisches Werk hinterlassen, aber nicht mal einen schnöden Lebenslauf. Wollte er, dass wir uns Details über sein Leben ausdenken müssen? Wollte er für immer ein Phantom bleiben? „Homer sang; aber nicht für uns“, schrieb Johann Gottfried Herder, und da schwingt eine liebevolle Trauer mit, ein Bedauern, die Person Homer so schwer fassen zu können. Doch wir dürfen anhand der Beweislage aus seinem Werk spekulieren: Wir suchen also einen klugen und gebildeten Mann, einen Griechen aus der Zeit um 700 v. Chr. Mit Denkerstirn und brillanter Sehkraft. Möglicherweise aus adligem Hause. Er reiste, um den Horizont zu erweitern und um sich Panoramen einzuprägen. Da auch Inseln auf seinem Weg liegen, musste er über seemännische Erfahrung verfügen. Anhand der liebevoll-komplexen Zeichnung seiner Figuren im Werk können wir ihn uns charakterlich vorstellen, natürlich rein spekulativ: großzügig, gesellig, nachsichtig, humorvoll. Ein großer Familienverband mit Kindern und Enkeln bereicherte seinen Einblick in menschliche Beziehungen, die er kraftvoll in den Epen schildert. Mehrere Liebhaberinnen (oder auch Liebhaber) will man ihm zusätzlich gönnen, allein schon für die Inspiration. Bis die Ermittlungen in ferner Zukunft abgeschlossen sind, sollten wir uns Homer als glücklichen Menschen vorstellen.