Food-Trends als Falle

Vegan, Low-Fat, glutenfrei: Ein Food-Trend jagt den nächsten. Ganz schön verwirrend – und für einige ein guter Vorwand, ihre Magersucht oder Bulimie zu verbergen

Die Jeans in der Umkleidekabine – zu eng. Dazu das überwältigende Gefühl der Scham: Mit meinem Körper stimmt was nicht. Saskia erinnert sich noch genau an diesen Schlüsselmoment, sie war damals gerade zwölf. Ein Jahr später begleitete sie ihre Großeltern auf eine Kreuzfahrt. Dort entdeckte sie, wie einfach man Kalorien nach einem üppigen Essen wieder los wird: durch Erbrechen. Sie rutschte in die Bulimie. „Irgendwann gab es keine Mahlzeit mehr, nach der ich mich nicht übergab“, erinnert sie sich. Mit 15 beschloss sie, komplett mit dem Essen aufzuhören. Sie kam in eine Klinik, zweimal. Geheilt wurde sie nicht, nur rausgeworfen – weil sie trickste und nicht wirklich gesund werden wollte. Die Magersucht zu verbergen war komplizierter. Aber sie fand auch dafür einen Weg: einfach den hippen Food-Trends aus den sozialen Medien folgen: „Ich fiel von einem Extrem ins Nächste, habe jeden Trend mitgemacht, ob vegan, High Carb, Intervallfasten oder Low Fat,“ sagt sie. So hatte sie eine prima Ausrede, weil sie ja scheinbar gesund und vernünftig lebte und einige Lebensmittel weglassen musste. Heute, neun Jahre später, sagt sie: „Diese Food-Trends sind extrem gefährlich, weil sich die Sucht nur verlagert und nicht auflöst. Weil neue Zwänge und Regeln entstehen, mit denen kein freies, glückliches Leben möglich wird.“ Unzählige Blogs und Instagram-Profile bedienen immer mehr neue Food-Trends. All diese Strömungen haben eine Gemeinsamkeit: Sie schränken das Essverhalten stark ein.

In diesem Parallel-Universum aus Foren, Blogs, Kanälen und WhatsApp-Gruppen zum Thema Bodystyling und Ernährungstrends kann man sich leicht verlieren. Eine Studie der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) zeigt, dass Essstörungen wie Anorexie, Bulimie und Binge-Eating stark zunehmen. Vor allem Frauen sind betroffen, bei den 18- bis 29-Jährigen ist ihr Anteil mit 88 Prozent am höchsten. Bei den Zwölf- bis 17-Jährigen stieg die Zahl zwischen 2008 und 2018 um 22 Prozent, bei den 18- bis 24-Jährigen um elf Prozent. Laut KKH wünscht sich schon die Hälfte der normalgewichtigen Mädchen im Grundschulalter, dünner zu sein, und fast jedes dritte Mädchen und jeder sechste Junge zwischen elf und 17 Jahren zeigt ein gestörtes Essverhalten. Shirley Hartlage fragt genauer nach, wenn ihr jemand in der Beratung von „Unverträglichkeiten“ erzählt oder Kohlenhydrate oder Zucker vom Speiseplan streicht.

“Die Sucht verlagert sich, aber sie löst sich nicht auf”

Hartlage ist Therapeutin, sie hat jahrelang junge Menschen bei Waage e. V. beraten, einem Fachzentrum für Essstörungen in Hamburg. Sie sagt: „Gerade Kohlenhydrate und Fette sind wichtig für das Satt-Gefühl. Lebensmittel sind für Menschen mit einer Essstörung nicht mehr nur Energiespender, sondern auch ein Tool, um seelischen Hunger zu stillen.“ Häufig sei eine Essstörung ein Weg, um mit Leistungsdruck und überhöhten Perferktionsansprüchen besser umzugehen. Wer abnimmt, erntet überwiegend Bewunderung – für Betroffene nicht nur die Bestätigung, dass sie auf dem vermeintlich richtigen Weg sind, sondern dass sie zumindest einen Bereich des Lebens unter Kontrolle haben: ihren Körper. Davon erzählt auch der Film „Ich hab’s geschafft“, den Hartlage mit ehemals Essgestörten produziert hat. Er will Mut machen, dass junge Menschen aus der Scham und der Selbstabwertung herauskommen, denn die Ursachen für essgestörtes Verhalten seien vielfältig, aber auch typisch: „Es ist auffällig, wie wir uns in der westlichen Gesellschaft permanent mit Ernährung, Körperkult, Optimierung beschäftigen. Da ist so viel Druck spürbar.“

Besonders Jugendliche auf der Suche nach Orientierung sind anfällig für Schönheitsideale, die ihnen von „außen“ vorgesetzt werden. Eine Forsa-Umfrage ergab, dass jeder sechste Teenager sich „häufig bis sehr häufig“ von Medien, Idolen und Influencer*innen gestresst fühlt. „Obwohl Jugendliche sehr wohl wissen, dass es sich um inszenierte, retuschierte und gefilterte Fotos handelt, die nicht die Realität zeigen, scheinen diese Bilder unbewusst doch weiter zu wirken“, so Hartlage. Denn unsere Sehgewohnheiten sind trainiert auf: Was wird gezeigt? Was hat Erfolg? Könnte ich selbst mit einer solchen Inszenierung nicht auch viel schöner, erfolgreicher, beliebter und wertvoller werden? Was muss ich dafür tun? Vielleicht abnehmen? So kann eine Essstörung beginnen. Eine gute Entwicklung: dass immer mehr Diversität in den sozialen Netzwerken und Medien gezeigt wird. Das hilft, sich von dieser schönen Scheinwelt abzugrenzen. „Wenn wir mehr unterschiedliche Körperformen und Lebensmodelle sehen, beeinflusst das unsere Vorstellung davon, was schön und lebenswert ist. Und auch in den Schulen sollte man verstärkt Themen wie Diversitätsbewusstsein, Medienkompetenz, gesunde Werte und Ziele im Leben einbinden“, rät die Therapeutin. „Das stärkt das Selbstwertgefühl der Jugendlichen: Ich bin gut, wie ich bin, auch wenn ich anders bin, denn ich bin mehr als ein Ideal.“

Ein Gedanke, auf den die 17-jährige Emma gern früher gekommen wäre: „Im Vergleich mit anderen fand ich mich immer hässlich. Zu dicke Oberschenkel, die Taille nicht schmal genug, die Brüste zu spitz.“ Die anderen, das waren ihre Freundinnen, aber auch Influencerinnen aus der Mode- und Beautyszene. Mit 14 begann Emma, bestimmte Posen nachzustellen, um auf Fotos ebenso perfekt zu wirken wie ihre Vorbilder. Dafür findet man im Netz jede Menge Anleitungen: das zur Seite ausgestellte Bein, das zufällig überkreuzte Bein, der in S-Form gebogene Körper, der beiläufige Blick über die Schulter. Emma reichte das nicht: „Ich sah immer unförmig auf den Fotos aus, oft habe ich geweint deswegen.“ Sie wollte dünn werden, möglichst schnell. Warf ihr Schulbrot weg, täuschte Bauchweh und Magen-Darm-Beschwerden vor, um nicht mit ihrer Familie essen zu müssen. Wurde vermeintlich krank. Auf der Suche nach weiteren Abnehm-Tricks landete sie auf Veggie-Blogs: stylish hergerichtete Summer-Bowls, knallgrüne Smoothies, knackige kalorienarme Salate und all das mit einer akzeptablen Story. Sie tat so, als ob es ihr um gesundes Essen, Tierwohl, Klimarettung und nicht um den perfekten Body ging, klang ja auch viel besser. Wie in einem Tunnel verlor sich Emma im Abnehm-Wahn. Bis zu zehnmal am Tag stellte sie sich auf die Waage, um ihre „Erfolge“ zu überwachen. Drei Dinge retteten sie. Erstens: Ihre lockigen Haare fielen büschelweise aus. Zweitens: Ihr älterer Bruder kam in ihr Zimmer, als sie auf dem iPad gerade eine „Pro Ana“-Fotogalerie geöffnet hatte: junge Mädchen in Schwarz-Weiß, nur Haut und Knochen, wie Gespenster. Ihr Bruder brüllte sie wütend an: „Das findest du schön? Daran wirst du sterben!“ Drittens: Billie Eilish. Die Botschaften und der damalige XXL-Look der Sängerin berührten etwas in Emma: „In ihren Songs und Interviews erzählte sie über Depressionen und Bodyshaming. Da klickte etwas bei mir. Gibt es nicht viel Wichtigeres, als Fotos zu posten? Ich – und alle anderen auch – sind doch viel mehr als Kilos auf der Waage“, sagt Emma, die inzwischen wieder Normalgewicht hat. Bei Instagram hat sie sich abgemeldet. Dafür hat sie einen sogenannten „Recovery Blog“, um anderen Betroffenen zu helfen. Warum aber fällt es vielen so schwer, eigene Werte unabhängig der üblichen Ideale von Erfolg und Schönheit zu finden und daran zu glauben?

“Ich bin gut, wie ich bin, auch wenn ich anders bin”

Die Psychologin Anuschka Rees sieht die Ursache in der Gesellschaft: „Wir haben verinnerlicht, dass wir uns attraktiv finden müssen, um im Leben klarzukommen.“ Influencer* innen werden dafür bezahlt, Marken und Labels in einem beneidenswerten Umfeld an perfekten Körpern zu inszenieren. „Die Botschaft wird subtil transportiert: Kauf das, dann fühlst du dich schöner und besser. Fatal!“, so Rees. Diese Verknüpfung von Schönheit und Selbstwertgefühl sei aber kein natürliches Gesetz, sondern kulturell anerzogen. „Ein positives Körperbild hat nichts damit zu tun, ob wir uns attraktiv finden, sondern eher mit dem Gespür, was der Körper braucht, wie er sich bewegt, was er kann und welche Bedürfnisse er hat“, so Rees. Die Forschung belegt für weibliche Teenager ein negatives Body-Image – Wegbereiter für depressive Verstimmungen, geringes Selbstwertgefühl und Essstörungen. Diese Schlüsselstellung nimmt das Body-Image bei männlichen Teenagern nicht ein. Sie stellen ihren Körper weniger zur Schau. Sind sie also fein raus? Nein. Auch wenn das Phänomen Muskeldysmorphie noch nicht intensiv erforscht wurde – die Furcht, nicht genügend definierte Muskeln zu besitzen: Auch dies kann zur Sucht führen, mit exzessivem Muskeltraining, einseitiger proteinhaltiger Ernährung und gar dem Griff zu Anabolika. Expert*innen schätzen, dass jedes fünfte männliche Fitnessstudiomitglied solche Symptome zeigt.

Ist Body Positivity die Lösung? Anuschka Rees findet es schwierig, sich schön finden zu müssen, auch wenn man nicht der Norm entspreche. „Das Problem daran: Der Fokus liegt dann ja immer noch auf dem Äußeren. Die Gedanken über unser Aussehen sollten einfach gar keinen übermäßigen Einfluss auf uns haben.“ Rees setzt daher auf „Body Neutrality“, um den Einfluss der Schönheit auf unser Leben zu neutralisieren. „Das Aussehen ist ja nur ein Faktor von vielen im Leben – neben Freunden, Arbeit, Hobbys. Und den Stellenwert sollte es auch nur bekommen.“

WEITERLESEN Anuschka Rees: „Beyond Beautiful“ (208 S., 25 Euro, Dumont)

BLOG Saskia schreibt auf ihrer Website www.buntezebras.com über ihre Erfahrungen mit der Essstörung

Erschienen in BRIGITTE

 
 

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