ABSCHIED VOM ALMSOMMER

Im Chiemgau leben der Senner und seine Kühe den Sommer über zusammen in der Stille der Berge. Im Herbst aber wird der Senner laut. Dann muss er die Kühe zurück ins Tal treiben

Der Senner zetert mal wieder. Steckt seinen Stock in einen dampfenden grünbraunen Haufen und stochert fassungslos darin herum. Ausgerechnet auf seine frisch gespaltenen, duftenden Holzscheite hat eine aus der Herde ihren kiloschweren Fladen fallen lassen. »Herrschaftszeiten, so ein Dreck«, flucht er. Minna trabt ein Stück beiseite. Sie sieht unschuldig aus. Für den einfältigen Gesichtsausdruck muss sie nur andächtig auf einem Grasbüschel kauen und lethargisch geradeaus starren, rüber zum Zahmen Kaiser und zum Wilden Kaiser, den zwei monströsen Bergketten, die sich an einem heißen Septembertag wie heute scharfkantig gegen den blauen Himmel abzeichnen. Wanderer bleiben stehen, fotografieren, freuen sich über das Motiv: eine idyllische Alpenkulisse mit einer normalen, braun-weiß gefleckten Kuh im Vordergrund. Aber sie irren. Minna ist keine gewöhnliche Kuh. Ein »raffiniertes und gescheites Vieh«, lobt Senner Franz Pfaffinger.

VERZAGTE, SIMULANTEN, QUERULANTEN

Er muss es wissen. Er kennt die markanten Eigenschaften jeder Kuh, so individuell wie die Zeichnung auf dem Fell. Unter dem »Fleckvieh« seiner Herde finden sich Querulanten, Simulanten, Exzentriker, Misanthropen, Verzagte und sogar Möchtegern-Rehe. Immer ist auch ein »Boadscherl« dabei, so ein tolpatschiges Tier, das mit blinder Gewissheit gegen Gatter rennt, Blumenbeete zertrampelt oder in sumpfigen Löchern stecken bleibt. Doch eine Kuh vom Format einer Minna kommt vielleicht alle hundert Jahre mal vor: stark, besonnen, alle Sinne ständig auf Empfang. Jedes Rascheln, jede Schwingung nimmt sie mit geblähten Nüstern wahr und scheint sich ihren Teil zu denken. Schaut man Minna eine Weile zu, gewinnt sie regelrecht Charakter und bekommt fast menschliche Züge. Ihr Benehmen: königinnengleich. Stets lässt sie sich auf einer erhöhten Kuppe nieder, über den anderen 25 Kühen der Herde. So kann sie ihr Reich besser überblicken: 50 Hektar Almfläche, 1100 bis 1500 Meter hoch gelegen. Links ein Kiefernwäldchen, rechts die senkrecht abfallende Spitzsteinwand, Österreich voraus. Unten im Tal liegen die Dörfer Sachrang und Aschau als bunte Flecken, umrahmt von saftigen Wiesen im schönsten Grasgrün. Reich gedeckte Tische. Minna leckt sich das Maul.

KEIN SCHMUCK, KEIN GETUE

Hier oben auf ihren zwei Almen, der Tristmahlnalm und der Aueralm, werden am Ende eines Sommers die Halme langsam zäh, nur manchmal findet sie noch einen Happen knackigen Löwenzahn oder ein Bündel würzigen Wegerich. Minna starrt hinunter ins Priental. Sollte sie nicht schon längst da unten sein, bei den frischen Wiesen? Letzte Woche kam Bäuerin Christine aus dem Dorf zum Senner. Sie sprachen über den Almabtrieb, der nun, Ende September, wie in jedem Herbst ansteht und darüber, dass alle anderen Bauern ihre Kühe schon geholt hätten. Die Kühe bekommen polierte Glocken umgehängt, Blumengestecke auf die Hörner, die Bäuerinnen zwängen sich in ihre besten Dirndl, in den Dörfern wird zum Tanz geladen. Ursprünglich ein Ritual des Dankes für einen Almsommer ohne verlorene Kühe, ohne Todesfälle. Heute ein »Schaulaufen für die Folklore und für die Touristen«, wie Franz Pfaffinger findet. Auf seiner Alm geht es pragmatisch zu. Kein Schmuck, kein Getue. Zumal die Herde noch nicht in den Stall, sondern auf eine Niederalm getrieben wird, eine Wiese in der Nähe des Bauernhofs. Bloß wann, ja wann wird es endlich so weit sein?

MINNA SCHNAUBTE, ES KLANG EMPÖRT

Der Senner und die Bäuerin hatten vor der Hütte laut diskutiert, mit den Armen gewedelt, in den blauen Himmel gezeigt, bis Christine in ihren Gummistiefeln die entscheidenden Worte sprach: »Das Vieh bleibt noch oben.« Minna schnaubte, es klang empört. Doch was Christine Pfaffinger sagt, das gilt. Ihrem Mann Max und ihr gehören die zwei Almen, Familienbesitz seit 1925. Senner Franz ist der Onkel von Bauer Max, der sich im Dorf um den Bauernhof kümmert und um die Gäste seiner Pension »Auerhof«. Allein vom Milchbetrieb könnten die Pfaffingers nicht leben, da würde nicht einmal Minnas erlesene Milch helfen. Aber noch gehört sie zum Jungvieh. Nur die dürfen auf die Hochalm, sich die Mägen mit saftigen Gebirgskräutern vollschlagen, bis sie zum Kalben und Melken bereit sind. Minna ist jung und mutig. Neulich wagte sie sich sogar auf die etwa 1600 Meter hohe Spitzsteinnordwand, obwohl auch die dümmste Kuh weiß, dass es da oben spukt. Doch Minna setzte graziös einen Fuß vor den anderen. So schaffte sie es auf die Wand.

SELBST BEI REGEN, NEBEL ODER DUNKELHEIT WURDEN DIE KLEINSTEN HINAUFGESCHICKT

Kletterer und Wanderer sind hier schon abgestürzt, vor Jahren auch zwei Kühe. Sie stolperten über die Kante, segelten mit gestreckten Beinen durch die Luft, zerschellten auf den spitzen Felsen unterhalb der Wand. Ein Kadaver wurde mit dem Hubschrauber abtransportiert, der andere blähte zwei Tage lang auf, wurde verbrannt. Sonst hätte es so gestunken, dass man den ganzen Sommer dort nicht hätte vorbeilaufen, geschweige denn grasen können. Geschichten von früher. Noch vor 50 Jahren muss das Leben auf der Tristmahlnalm hart gewesen sein. Es wurde ununterbrochen gemolken, gerahmt und gekäst, Schweine und Hühner wurden direkt vor der Hütte geschlachtet. Alle sieben Kinder mussten anpacken, unter ihnen auch der Senner Franz. Selbst bei Nebel, Regen und Dunkelheit wurden die Kleinsten hinausgeschickt, um entlaufene Kühe im unwegsamen Gelände einzufangen. Sogar wenn Wilderer unterwegs waren, die auf alles schossen, was sich bewegte. Kein Erbarmen. »Ohne Vieh kommst du nicht zurück«, befahl die Sennerin. Auch bei Gewitter, das hier in den Alpen immer urplötzlich hereinbricht. Diese kilometerhohen Wolkentürme – man sieht sie zwischen den Gipfeln zu spät heranrollen, bevor sie sich mit aller Wucht über dem Kessel entladen. Dann knistert die Luft, Blitze zucken im Sekundentakt, und Donnerschläge hämmern gegen Felsen. Die Kinder mussten trotzdem raus. Die Sennerin blieb drinnen in der Hütte, entzündete die schwarze Wetterkerze, betete den Rosenkranz und zuckte bei jedem Schlag zusammen, der durch das hundertfache Echo an der Spitzsteinwand so furchterregend hallte, als würden Himmel und Hölle gemeinsam einstürzen.

DAS IST PURES ZEN. DIESE TIERE LEBEN SO MITTIG UND ZENTRIERT

Minna mag leise Geräusche lieber. Das beständige Plätschern am Wassertrog. Das warme Bimmeln der Kuhglocken. Manchmal pfeift ein Murmeltier oder ein Kolkrabe nervt mit seinem Klok-klok-klok. Dabei gibt es kein beruhigenderes Geräusch als ein sattes und zufriedenes Muhen. Die Menschen kommen langsam dahinter. Schwitzend stiefeln sie den Berg hinauf, nur um hier oben auf der Alm mal richtig tief Luft zu holen. »Das ist pures Zen! Diese Tiere leben so mittig und zentriert, davon träumen wir Menschen«, ruft der Mann mit den lockigen Haaren, die sich beinahe so schön kringeln wie die auf Minnas Stirn.

Vor zwei Monaten war er schon mal da, kam aus der Stadt mit Burn-out und kreisrundem Haarausfall, lebte ein paar Wochen in der leeren Hütte unterhalb der Alm – und nun wächst seine Mähne wieder. Denn hier bekommt jeder, was er braucht, besonders wenn er eine Kuh ist: Gras, Luft, Berge – und dieses samtweiche Gebirgswasser aus dem Trog, das Minna so genießerisch schlabbert wie einen erlesenen Wein. Senner Franz erzählt dem Gelockten, dass die Alm auch ihn gerettet habe. Dass sein Herz mal schwach war und er kaum 50 Meter laufen konnte. Dass hier oben alles besser wurde. Dass er manchmal sogar im Winter zur Hütte hochkommt, sich draußen an die Wand lehnt, in die Ferne starrt. »Stundenlang mache ich das, ist doch verrückt, oder?« Der Gelockte nickt, als wüsste er genau, was der Senner meint.

DER SOMMER IST VORBEI. IRGENDWAS WIRD BALD GESCHEHEN

Minna hat schon mal in die Hütte hineingelugt, wo der Senner immer rumort, klappert, isst und schläft. Seit zwölf Jahren schon. Jeden Sommer von Ende Mai bis Ende September. Solarzellen sorgen für Strom und Warmwasser zum Duschen. Drinnen sieht es gar nicht übel aus: ein gemauerter Ofen, der behaglich knistert, ein gezimmertes Etagenbett, ein Holztisch, eine Gitarre auf der Bank neben dem alten Magnum-Kassettenrekorder, Doppeldeck, sicher noch aus dem letzten Jahrhundert. Daneben die Kassetten: »I bin der Teufelgeigerbua« neben den »Inntaler Sängern« neben den »Alpachert Bläsern« neben »Spanisch in 30 Tagen«. Oft spielt der Senner Gitarre, mexikanische Freiheitslieder, spanische Kinderlieder, in letzter Zeit auch Schwermütiges wie »Da Summa is umma«. Der Sommer ist vorbei. Irgendwas wird bald geschehen. Ganz sicher. Der Senner verbreitet auf einmal eine ungewohnte Geschäftigkeit. Zersägt emsig lange Baumstämme, stapelt das Holz, stapft die Alm auf und ab, zerrt junge Latschen, Farne und Disteln raus, wirft das Gestrüpp auf große Haufen. Kontrolliert die »Klamperl«, die Klammern des vier Kilometer langen Drahtzauns, der die Weide schützt. Und zählt immer wieder das Vieh durch.

Am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang knallen die Autotüren. Verstärkung aus dem Tal rückt an. Bauer Max mit dem Rauschebart, sein ältester Sohn, zwei Nachbarsjungen und der Gelockte scharen sich um den Senner, der heute Hut trägt. Sie reden, gestikulieren, schauen zu den Tieren. Minna zupft stur am kurzstengeligen Enzian herum, den sie normalerweise links liegen lässt. Der Senner löst sich aus der Gruppe, stapft quer über die Wiese, hebt die Arme und im orangefarbig-verhangenen Morgendunst sieht er aus wie ein Prediger, der die Berge beschwört. Endlich Zeit für den Abtrieb.

REMPELN, STOßEN, TRETEN, DRÄNGELN

»Geh, Kühlein, geh!«, hallt es herüber. Weiter unten, bei den Bäumen, antwortet ein Teil der Herde mit einem entschlossenen Muhen. Das Echo fliegt verzerrt durch die Luft. Die Kühe hinter Minna schnauben stoßartig durch die Nüstern. »Geh, geh!« Nun wird es ungemütlich. Minna wird von einer anderen Kuh geschubst, einmal, zweimal, dreimal. Beim vierten Mal setzt sie sich endlich in Bewegung, die anderen Kühe wie eine Streitmacht neben sich. Minna vergisst alle Vorsätze. Sie trampelt, rennt, ja, fliegt beinahe die Almwiese bergab. Die anderen Kühe rempeln, stoßen, treten, drängeln. Die Männer umzingeln die Herde, nur der Zugang zum schmalen Waldweg ist noch frei. Minna stürzt auf ihn zu, rast besinnungslos voran, immer bergab, der Boden bebt. Die letzten Bilder der Alm fliegen vorbei, prägen sich ein: dort der Felsen, hier die Lichtung, da vorn die sumpfigen Wiesen. Rote Flecken tanzen vor ihren Augen, neue feine Geruchsfäden kriechen in ihre Nase: würziges Moos, saftige Pilze und knackige Baumrinden. Doch Minna hastet weiter, nimmt rasant jede Biegung des Weges. Es ist nicht mehr weit, sie spürt das in den Nüstern. Wiese! Gras! Fressen! Da schimmert es grün durch die Bäume. Minna überholt alle anderen, setzt sich an die Spitze, hechtet besessen voraus, wirft sich mit aller Kraft gegen das hölzerne Gatter, die anderen Kühe drängen von hinten auf sie rauf, bilden ein geflecktes Knäuel aus riesigen Leibern. Bauer Max scheucht alle beiseite, und endlich, endlich öffnet er das Gatter. Geschafft. Minna im Paradies. Sie tänzelt. Bis Allerheiligen wird ihr die Wiese gehören, hier wird sie auch den letzten Halm der Niederalm vertilgen. Bis es in den warmen Stall geht und sie dort ihre farbigen Träume spinnen kann. Vom nächsten Sommer, vom Aufstieg auf ihre Alm.

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WANDERN

Wege aller Längen und Schwierigkeitsgrade führen durch Seenlandschaft und Alpenvorland. Besonders anziehend sind die urigen Almhütten, die den Wanderern Herberge und eine deftige Brotzeit bieten.

Ein Beispiel von vielen: Kampenwand »Von Hütte zu Hütte« Der 30 Kilometer lange Rundkurs beginnt und endet in Aschau. Er verteilt sich auf drei ungefähr gleich lange Tagesetappen, die jeweils vier bis fünf Stunden dauern. Der erste Tag beginnt mit der Fahrt in der Kampenwandseilbahn, dann weiter auf dem Wanderweg Nr. 20 zur Priener Hütte (1410m) unterhalb des Geigelstein-Gipfels. Wer noch Kraft und Lust hat, kann ihn erklimmen und wird dafür mit einem großartigen Alpen-Panorama belohnt. Zur Wahl stehen hier Ein Platz im Matratzenlager oder ein richtiges Bett.

Ziel der zweiten Tour ist das Spitzsteinhaus (1263m), das über den Wanderweg Nr. 6 erreicht wird und nach einem schönen, aber anstrengenden Tag Erholung bietet. Auf dem Weg kann die Pfarrkirche in Sachrang besucht werden. Die letzte Strecke verläuft zum Teil entlang der deutsch-österreichischen Grenze und endet auf der Riesenhütte (1345m). Der Abstieg zurück nach Aschau am nächsten Tag dauert dann lediglich eineinhalb Stunden. Genaue Beschreibung der Tour auf: www.chiemsee-alpenland.de

Die ganze Fülle der Wege und Unterkünfte in: »Almen und Berggasthöfe – 137 Wanderziele zwischen Sonntagshorn und Wendelstein«, Bestellbar bei www.oekomodell.de

Erschienen in MERIAN

 
 

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