Hermann Göring mit seinen Neffen Heinz (Bettina Görings Vater) Peter und Helmuth (v.l.): Er war Nummer zwei in Hitler Machtapparat.
Foto: Archiv Bettina Göring
Da dämmerte ihr, wer Großonkel Hermann wirklich war
Erst spät wurde Bettina Göring klar, in welcher Familie sie aufwuchs. Nun erzählt sie ihre Lebensgeschichte, geprägt von ihrem Großonkel, dem Nazi-Verbrecher Hermann Göring
»Alles Lüge. Kein Wort wahr. Hermann Göring war ein guter Mensch. Vergasungen? Niemals«, keift Ilse Göring 1967, als eine Auschwitz-Dokumentation im Fernsehen läuft. Zu dritt sitzen sie vor dem Fernseher. Großmutter Ilse und ihre beidenEnkel, Bettina Göring, elf, ihr Bruder Carl, zwölf Jahre alt.Carl kann das Gezeter seiner Großmutter nicht ertragen, er wirft voller Wut einen Holzschuh gegen den Kopf der alten Frau.Die Szene war ein Schlüsselmoment im Leben von Bettina Göring, so sagt sie es selbst. Ihr dämmerte damals, dass mitden Geschichten über ihre Herkunft etwas nicht stimmte. Dass ihr Großonkel Hermann Göring ein anderer Mensch gewesen sein könnte, als ihr erzählt wurde. Ein Psychopath, einNarzisst, ein Trottel, ein Monster, wie sie es heute sieht. Und: ein Täter im Nationalsozialismus.
Hermann Göring, Bruder ihres Großvaters väterlicherseits,war die Nummer zwei in Hitlers Machtapparat. Schon in denZwanzigerjahren steht er treu an Hitlers Seite, als Chef derSturmabteilung (SA), dem Prügeltrupp der NSDAP, Hitlers Partei. Nachdem Hitler am 30. Januar 1933an die Machtkommt, wird Göring preußischer Ministerpräsident. Er gründet die berüchtigte Gestapo, die Geheimpolizei, lässt jede Opposition brutal verfolgen.
Ab 1935 ist er Oberbefehlshaber der Luftwaffe, verantwortet etwa die Luftangriffe auf das spanische Guernica, wird 1940 Reichsmarschall des Großdeutschen Reichs. Und er beauftragt die »Endlösung der Judenfrage«, den Holocaust. Nach der deutschen Niederlage wird er bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen 1946 zum Tode verurteilt. Kurz vor seiner Hinrichtung tötet er sich selbst mit einer Zyankalikapsel. Das ist die Kurzform.
Mit 13 Jahren hatte Bettina Göring noch keine Ahnung von dieser Vergangenheit. Sie stritt mit ihrem Vater, beschimpfte ihn als »Parasiten aus der Scheiß-Göring-Familie«. Sie war wütend auf »diese Attitüde, die er mit sich herumtrug. Als ob er etwas Besseres sei. Dabei verdiente meine Mutter als Schneiderin das Einkommen, und er ließ sich zu Hause nur bedienen«, erzählt sie.
Flucht vor der Familie
Der Vater schlug ihr ins Gesicht, sein Siegelring mit dem Familienwappen der Görings riss ihr die Haut auf. Sie schlug zurück, bis Heinz Göring zu Boden ging. An diesem Tag verließ sie ihre Eltern, hüllte sich in den Nerzmantel ihrer Großmutter, ohne zu wissen, dass dieser ein Geschenk des Nazigroßonkels war. Erst im Erwachsenenalter begann Bettina Göring, sich systematisch mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Davon erzählt die heute 68-Jährige in ihrem Buch »Der gute Onkel. Mein verdammtes deutsches Erbe« (Droemer; 417 Seiten; 25 Euro). Dafür hat siegemeinsam mit Co-Autorin Melissa Müller Archive durchsucht, Briefe gelesen, Fotos sortiert bis zurück ins 19. Jahrhundert, um die Abgründe ihrer Herkunft zu erforschen.
Das Buch schildert ihre Sinnsuche rund um den Globus, die nach der Flucht vor der Familie begann. Bettina Göring lebte mehrere Jahre in Indien, im Ashram des umstrittenen Lehrers Osho. Ihm folgte sie in den US-Bundesstaat Oregon in die»Big Muddy Ranch«, wo sie Telefonüberwachung, Erpressung, Diebstahl und einen Bioterroranschlag erlebte. »Ich bin dem falschen Führer gefolgt«, fasst sie die Erfahrung heute zusammen. Sie zog weiter über San Diego und Santa Fénach Koh Samui in Thailand, wo sie heute noch lebt.
Beim Zoom-Interview wirkt sie geerdet, die Vögel zwitschern fröhlich im Hintergrund. Sie hat gebräunte Haut, lange glatte Haare, ein warmes Lächeln im Gesicht, als könne nichts mehr sie erschüttern. Die Arbeit am Buch war für sie eine Konfrontation, eine Erklärung für ihr unangepasstes Leben, das sie als »ebenso radikale wie legitime Antwort auf mein Erbe« versteht.
Das Erbe ahnte sie seit dem Vorfall vor dem Fernseher mit Oma Ilse. Aber sie realisierte es erst spät, beinahe schockartig. »Weißt du eigentlich, dass dein Großonkel die Endlösung der Judenfrage beauftragt hat? Dass seine Unterschrift der Freibrief zur Ermordung von Millionen Juden war?«So begann die australische Künstlerin Ruth Rich in den Nullerjahren eine Mail an Bettina Göring, wie sie im Buch schildert. Die Künstlerin bereitete damals ihre Dokumentation»Bloodlines« vor, die die Nachkommen der Täter und der Opfer des Naziregimes nebeneinander vorstellte. Bettina Göring wusste bis dahin nicht, dass der Bruder ihres Opas ein Massenmörder war. »Ich schlief kaum noch und begann, mich mit den Fakten zu konfrontieren, nach denen ich vorher nicht gesucht hatte, denen ich, vermutlich um mich selbst zu schützen, instinktiv ausgewichen war«, sagt Göring heute über die Zeit, in der sie ihrer Familie hinterher recherchierte.
Die Deutungshoheit über die Geschichte zurückgewinnen
Sie stieß auf Sätze wie diesen: »Mir wäre es lieber gewesen,ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet.« Das schrieb ihr Großonkel Hermann nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938, in der jüdische Geschäfte, Synagogen, Wohnungen zerstört und in Brand gesetzt wurden, an Joseph Goebbels, den Initiator der Pogrome. Seit 1936 war Göring als Reichsbeauftragter für den Vierjahresplan verantwortlich, der die deutsche Wirtschaft möglichst autark auf den Krieg vorbereiten sollte.
Bettina Göring mit ihrer Großmutter Ilse, ca. 1962. Diese vertuschte selbst ihre Vergangenheit. Foto: Archiv Bettina Göring
1941 erteilte Hermann Göring dem SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich die Weisung, »alle erforderlichenVorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa«. Es ist einSchlüsseldokument des 20. Jahrhunderts, die schriftliche Anordnung, die Ermordung der europäischen Jüdinnen undJuden voranzutreiben. Heydrich stellte sein Konzept auf der Wannseekonferenz am20. Januar 1942 vor. Eine Formalie, denn die Deportationen liefen bereits, die Vernichtungslager standen, die Schornsteine der Krematorien rauchten. Etwa elf Millionen europäische Juden sollten »nach Osten« evakuiert werden. Göring widersprach nicht.
Reichsmarschall Hermann Göring (r.) mit Adolf Hitler 1939: »Alle Vorbereitungen treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage« Foto: AP
Bettina Göring hat ihren Großonkel nie kennengelernt. Doch sie spürte den Auftrag, sich mit ihrer Geschichte beschäftigenzu müssen. Nicht zuletzt, um zu verhindern, dass Ähnliches sich wiederholt. Auch darum ließ sie sich sterilisieren, ihr Weg,die Familientradition zu kappen. »Cut the line«, so nannte es ihr Bruder, der sich ebenfalls sterilisieren ließ, es sollte keine weiteren Göring-Nachfahren geben.
Der Wunsch nach eigener Deutungshoheit über die Geschichte wuchs. So entschied sie, ihre Perspektive darzustellen, ihreBiografie zu erzählen. Sie beschreibt, wie sie sich ihren eigenen Weg durch das Labyrinth der Vergangenheit bahnte, mit vielen Tiefpunkten wie psychischen Aussetzern, Schlaflosigkeit, Drogenkonsum, Traumatherapie. Aber sie schreibt auch über Hermann Göring. So schildert sie detailliert dessen Lebensweise – weil diese die nächsten Generationen der Familie ebenfalls beeinflusste. Seiter als Teilnehmer des Hitlerputsches 1923in Münchenangeschossen worden war, war Hermann Göringmorphiumsüchtig. Bettina Göring zeichnet ihn als größenwahnsinnig, besessen von Reichtum und Luxus.Quer durch Europa ließ er Kunstwerke von Jüdinnen undJuden und anderen rauben und in prächtigenEisenbahnwaggons zu sich kutschieren. Die Fingernägel lackierte er rot, trug selbst entworfene Uniformen, die wieTheaterkostüme aussahen. Wie ein Monarch zelebrierte er einen dekadenten Lebensstil.
Der Wunsch nach eigener Deutungshoheit über die Geschichte wuchs. So entschied sie, ihre Perspektive darzustellen, ihre Biografie zu erzählen. Sie beschreibt, wie sie sich ihreneigenen Weg durch das Labyrinth der Vergangenheit bahnte,mit vielen Tiefpunkten wie psychischen Aussetzern, Schlaflosigkeit, Drogenkonsum, Traumatherapie. Aber sie schreibt auch über Hermann Göring.
So schildert sie detailliert dessen Lebensweise – weil diese die nächsten Generationen der Familie ebenfalls beeinflusste. Seit er als Teilnehmer des Hitlerputsches 1923 in Münchenangeschossen worden war, war Hermann Göring morphiumsüchtig. Bettina Göring zeichnet ihn alsgrößenwahnsinnig, besessen von Reichtum und Luxus. Quer durch Europa ließ er Kunstwerke von Jüdinnen und Juden und anderen rauben und in prächtigenEisenbahnwaggons zu sich kutschieren. Die Fingernägel lackierte er rot, trug selbst entworfene Uniformen, die wieTheaterkostüme aussahen. Wie ein Monarch zelebrierte er einen dekadenten Lebensstil.
Löwenbabys für die Geburtstagsparty
Seinen letzten Geburtstag in Freiheit feierte der Reichsmarschall mit allem Pomp. Im Januar 1945, als derKrieg schon fast verloren war. 100 Flaschen Champagner, 180 Flaschen Rot- und Weißwein, 85 Flaschen Kognak, 50 Flaschen Likör, 500 Zigarren und 4000 Zigaretten hatte er für seine Gäste auf dem Luxusanwesen »Carinhall« in Brandenburg heranschaffen lassen, so erzählt es Göring in ihrem Buch. Zur Unterhaltung ließ er sich Löwenbabys aus dem Berliner Zoo bringen, die auf dem Anwesen umherstreiften. Bettina Göring geht es nicht darum, die Persönlichkeit ihres Großonkels zu analysieren oder zu erklären. »Ein Tyrannenversteher wollte ich nie sein.« Aber sie geht der Frage nach, wie der Lebenswandel und die Taten des prominenten Nationalsozialisten ihre Familie prägten.
Ihr Vater Heinz Göring, geboren 1921, habe seinen Onkel Hermann geliebt und verehrt, als Ersatzvater, Patenonkel, Wohltäter. »Sein träumerisches Gemüt bewahrte ihn vor Selbstzweifeln und erst recht vor Selbstvorwürfen. Auf die Idee, dass er mitverantwortlich sein könnte für den Horror in der Familie, kam er noch immer nicht«, schreibt Bettina Göring über ihren Vater.
Der trug bereits als Kind eine Brille und wurde deshalb im Zweiten Weltkrieg nur als Aufklärungsflieger eingesetzt, nicht als Jagdflieger wie seine beiden jüngeren Brüder Peter und Helmuth, die beide fielen. Mutter Ilse sah in ihrem Ältesten immer den falschen Überlebenden.
Beruflich tat sich Heinz Göring schwer: Er lieferte Eier aus, sammelte und handelte mit Briefmarken, Büchern, römischenMünzen und Antiquitäten. Er habe seinen Dünkel gepflegt, der typisch sei für die Görings, sagt seine Tochter. Seine Mahlzeiten mussten mindestens drei Gänge haben, gern habe er Froschschenkel und Kaviar gegessen, doch der Rest derFamilie habe nichts davon bekommen.Dabei verdiente seine Ehefrau Elisabeth den Großteil des Einkommens. Falls sie dazu in der Lage war, denn sie war»entweder busy oder besoffen«. Es kam vor, dass Bettina Göring nach der Schule ihrer Mutter ins Bett helfen musste, weil die nur noch torkelte.
»Diese verschiedenen Energien, die bei uns zu Hause aufeinandertrafen, waren extrem. Diese toxische Ehe der Eltern, wir rebellischen Kinder, die sture Großmutter«, sagt Göring im Zoom-Gespräch. Ilse Göring lebte seit 1967 imHaushalt der Familie in Wiesbaden. Ihre Verehrung für ihrenSchwager Hermann hielt unerschütterlich bis zu ihrem Tod. Schließlich hatte er ihr durch finanzielle Zuwendungen immer geholfen, ihre drei Söhne wie seine eigenen behandelt, ihr sogar einen Waggon voller Raubgut geschenkt. »Es waren Möbel, die sie auch behalten hat. Mein Vater hat sie kurz vors einem Tod 1981 noch verkauft, um seine Schulden zu bezahlen. Ich war froh, dass ich nichts damit zu tun haben musste«, sagt Bettina Göring.
1939 besorgte Hermann Göring seiner Schwägerin Ilse einen Spitzenposten als Generalhauptführerin beim Deutschen Roten Kreuz. Die DRK-Mitglieder waren an der NS-Euthanasie und an Menschenversuchen beteiligt. Ilse Göring besichtigte in ihrer Funktion auch Konzentrationslager – und stritt später dennoch die Massendeportationen der Juden und das millionenfacheMorden vehement ab. Ebenso wie ihr Schwager in den Nürnberger Prozessen 1946. Hermann Göring wollte von den Grausamkeiten in denKonzentrationslagern nichts gewusst haben. Zu keinem Zeitpunkt habe er irgendeinen Mord befohlen, behauptete er. »Und ebenso wenig sonstige Grausamkeiten angeordnet oder geduldet, wo ich die Macht und das Wissen gehabt hatte, solche zu verhindern.«Keine Einsicht, kein Bedauern. Und nie ein Thema in der Familie. Doch gerade an Monster wie ihren Großonkel müssten sich Familien erinnern, findet Bettina Göring. Ihre wichtigste Botschaft: »Nie wieder.« Die rechtsnationalen Bewegungen inEuropa und in den USA seien bereits zu stark geworden. Vielleicht, so meint sie, würde es helfen, wenn sich mehr Familien in Deutschland mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigen würden.
Bettina Göring 1978: Ein unangepasstes Leben
Foto: Archiv Bettina Göring